Zuletzt aktualisiert am 7. Juli 2017 um 0:15
und in der Kurzfassung auf der Deutschen Welle:
Nach einem tödlichen Unfall begann im Oktober 2005 der Aufstand der Jugendlichen in Clichy sous Bois. Tagelang brannten Autos und Barrikaden. Elf Jahre später hat sich trotz Bau- und Sozialprogrammen nicht viel geändert. Die Jugendlichen brauchen Anerkennung und vor allem Jobs.
Clichy sous Bois. „Natürlich kracht’s hier wieder, spätestens wenn die neue Polizeistation aufmacht“, sagt der große Schwarze, der mit seinem Kopf fast an die Decke des Tonstudios stößt. Zwischen seinen Sätzen singt er im Vorstadt-Slang vom Ärger mit den „Bullen“, von Enttäuschungen, Familie, von Wut und Hoffnung. Canon nennt sich der 18jährige Rapper.
2005 brannten in Clichy und anderen Pariser Vororten fünf Tage lang Autos und Barrikaden. Jugendliche bewarfen Polizisten mit Molotow-Cocktails und Steinen. Die Uniformierten prügelten auf sie ein. Bilanz: Vier Tote, 217 teilweise schwer verletzte Polizisten, fast 5000 Festnahmen, mehr als 10.000 verbrannte Autos und rund 500 beschädigte Gebäude.
Canon klingt resigniert. Wünsche hat er trotzdem: „Ein Kino könnten Sie hier machen, oder ein Einkaufszentrum, damit die Leute nicht mehr auf der Straße herumhängen müssen.“
Präsident Nicolas Sarkozy, der 2005 als Innenminister das „Gesindel“ aus den Vorstädten mit dem Dampfstrahler verjagen wollte, setzt auf Repression. Die Nationale Front macht Stimmung gegen Einwanderer. „Frankreich liebt man oder man verlässt es.“
Polizeiwachen statt Jobs
Der damalige Staatspräsident Sarkozy versprach vor allem Sicherheit. Zwischen heruntergekommenen grauen Wohnblocks aus den 70er Jahren entsteht in Clichy eine neue Polizeiwache. Die, findet Canon, „macht alles noch schlimmer“. Die konservative Regierung hat die von den Sozialisten eingeführte Nachbarschaftspolizei abgeschafft. Statt der Nachbarschaftsbeamten, die auf dem Fahrrad durchs Viertel fahren und die meisten Jugendlichen beim Namen kennen, patrouilliert die nationale Polizei durch Clichy und andere Pariser Krisen-Vororte.
Auf dem Weg zum Tonstudio ist Canon mit seinen beiden Freunden in eine Kontrolle geraten. „Zieh Deine Socken aus“, hätten die Polizisten zu einem der drei Jugendlichen gesagt. „Nur so, wir haben nichts gemacht“, schwört Canon. Als sie die Anweisung befolgt hatten, durften die drei weiter fahren.
„vielleicht ein bisschen härter, aber ganz normal“
„Wenn wir rappen, hören die Leute wenigstens zu“, hoffen die drei Musiker. „Wenn wir was sagen, interessiert das kein Schwein.“
„Clichy“, meint Canon, „ist doch eine Stadt wie andere auch, ein bisschen härter vielleicht, aber ganz normal“. Seine Freunde nicken.
Ipek „fehlt hier nichts“. Die 17jährige ärgert sich vor allem über die Vorurteile, die den Kindern der Vorstädte überall in Frankreich entgegenschlagen. Die Medien berichten über Gewalt, Kriminalität und Randale. Dann verschwinden die Journalisten wieder. Ipek will es einmal besser machen. Sie will Journalistin werden. Ihre Kinder sollen nicht in Clichy aufwachsen. „Ich möchte, dass sie studieren wie ich und sich dann mit einer Adresse bewerben können, mit der sie es leichter haben. Paris zum Beispiel.“
Schule hinterm Gitterzaun
Am Collège Alfred Nobel in Clichy, gleich gegenüber der neuen Polizeiwache, macht die 17jährige demnächst ihr Bac, eine Art Abitur. Ein fast drei Meter hoher Gitterzaun trennt das Schulgelände von der Straße. Ein Wachmann kontrolliert, wer durch das schmale offene Tor das Schulgelände betritt. Mit dem Zaun schütze sich die Schule vor Jugendlichen aus dem Viertel, die im Gebäude ihre Kämpfe austragen wollen, erklärt die Direktorin.
Auch wenn sie wie Lehrer und Schüler Normalität beschwört, ist Schule in Clichy anders: Die Kinder müssen zuhause mitarbeiten, einkaufen, auf die Geschwister aufpassen. Sie haben keine Zeit und keinen Raum, etwas für die Schule zu tun“, sagt Deutschlehrerin Julia Selge. Mancher Vater, manche Mutter kann weder lesen noch schreiben.
Clichy ist arm. Die etwa 30.000 Bewohner des Städtchens am Nordrand von Paris müssen mit durchschnittlich 9000 Euro im Jahr auskommen. Landesweit liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei gut 28000 Euro.

Die Probleme sind über Jahrzehnte gewachsen. In den 60er Jahren strömten aus den ehemaligen Kolonien Arbeitskräfte ins Land. Die Industrie brauchte Arbeiter. Weil Wohnungen in Paris knapp und teuer waren, bauten Staat und Privatunternehmen rund um die Hauptstadt gigantische Wohnblocks, möglichst schnell, möglichst billig. Doch die Neubauten verkamen schnell. Die Infrastruktur wuchs nicht mit. Es fehlen Einkaufszentren, Kinos, Theater und wie in Clichy bis heute – schnelle Verkehrsverbindungen.
„Die Armut breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür“
Mit Bus und Bahn braucht man von Clichy nach Paris eineinhalb Stunden – für nicht einmal 20 Kilometer. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Die Armen bleiben zurück. Ganze Stadtteile sind inzwischen verslumt.
„Die Armut“, sagt Clichys Bürgermeister Claude Dilain, „breitet sich wie ein Krebsgeschwür in der Gesellschaft aus. Dilain ist Arzt. „Den Krebs sieht man lange nicht. Schließlich tötet er.“
In den heruntergekommenen Wohnblocks leben fast nur noch arabische und afrikanische Einwandererfamilien – meist mit vielen Kindern. Clichy ist jung. Die Hälfte der Einwohner ist unter 25. Jeder Dritte ist Ausländer, obwohl die in Frankreich geborenen Kinder der Immigranten automatisch Franzosen sind – zumindest auf dem Papier.
Das Looser Etikett auf der Stirn

„Alle behaupten, dass wir hier dealen“, schimpft Rapper Canon. „Aber Koks bekommst Du in den Reichenvierteln leichter als hier.“ Auf seine Stadt lässt Canon nichts kommen. Er kämpft, auch wenn ihn gar keiner angreift. Lebensgefühl in einer Stadt, die Politiker und Medien abgestempelt und abgeschrieben haben. Das Loser-Etikett klebt den Jugendlichen der Banlieue auf der Stirn.
„Viele halten uns für Kriminelle“, berichtet die 22jährige Linda, die trotz Hochschulabschluss und Zusatzqualifikation nicht einmal eine Praktikumsstelle findet.
„Seid selbstbewusster“
Beim Verein Mozaik übt sie zusammen mit anderen Jugendlichen Vorstellungsgespräche. In drei Minuten sollen sich die jungen Leute optimal vor einer Auswahlkommission präsentieren. Eine junge Afrikanerin ist vor der Gruppe so aufgeregt, dass sie keinen Ton mehr herausbringt. Weinend bricht sie ihre Vorstellung ab.
Erfahrene Personaler kommentieren die Auftritte und geben Tipps: „Informiert Euch vorher gründlich im Internet über die Unternehmen und schaut die Leute an, wenn ihr mit ihnen sprecht. Seid selbstbewusster. Ihr habt etwas zu bieten“, ermutigt Hugue Vanderhague die jungen Leute. Der Manager eines internationalen Konzerns hat sich für ein Jahr eine Auszeit genommen, um Jugendliche aus benachteiligten Vierteln als Pate ehrenamtlich ins Berufsleben zu begleiten. „Viele junge Leute sind nach den zahllosen Absagen zu nervös. Sie sprechen zu viel von ihren Niederlagen.“

Die französischen Manager kommen alle aus den selben Elite-Hochschulen. „Die sind wie geklont“, findet Said, der Geschäftsführer des Vereins Mozaik. „Die bestätigen sich gegenseitig ihre Vorurteile“. Said ist in Bondy aufgewachsen, eine weitere „Problemvorstadt“ am Ostrand von Paris. Seine Eltern stammen aus Algerien. Trotzdem hat er es geschafft. „Ich hatte mein Ziel, habe Betriebswirtschaft studiert, wollte ins Personalwesen und habe nicht aufgegeben.“
Auftreten, Anerkennung und Beziehungen
Den Jugendlichen aus den „benachteiligten Stadtteilen“ fehlen vor allem die richtigen Beziehungen und das entsprechende Auftreten. „Die Wut in den Vorstädten“, sagt Said, „kommt aus der Enttäuschung. Die jungen Leute strengen sich an, arbeiten hart, studieren und dann stehen sie vor verschlossenen Türen.“
„Ihnen fehlt vor allem Anerkennung“, bilanziert die Sozialwissenschaftlerin Jacqueline Costa Lascoux vom nationalen Forschungsinstitut CRN. Vor allem junge Männer, die sich von der Mehrheit der Franzosen abgelehnt fühlen, seien leichte Beute für Islamisten. „Sie versprechen ihnen das Paradies, Geld und Anerkennung“.