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Vilnius: Die Stadt der vielen Wahrheiten

Künstlerrepublik Uzupis:

Vilnius/Litauen. Auf einer Halbinsel mitten in Vilnius gehen die Uhren anders: Eine halb im Scherz, halb im Ernst zur selbstständigen Republik Užupis ausgerufene Künstlerkolonie hat sich eine eigene Welt geschaffen. Drum herum liegt Osteuropas größte, barockprächtige Altstadt mit an die 50 Kirchen aller Konfessionen, kopfsteinpflasterkrummen Gassen, modernen Studentencafés und letzten Resten des untergegangenen Sowjetreichs.

Künstlerrepublik Uzupis:

Der Präsident ist ein vielbeschäftigter Mann. „Er ist in Portugal“, meint einer seiner Untertanen „nein in der Mongolei“, korrigiert ein Zweiter, während der Staatschef gerade um die Ecke kommt. Der Mann mit dem angegrauten Dreitagebart und den wasserblauen Augen trägt Verantwortung, sehr viel Verantwortung – „zum Beispiel für den Wind, unsere vier Flaggen- eine für jede Jahreszeit – und für unseren Kalender.“ Das Jahr beginnt in der Republik Užupis an Frühlingsanfang. „Da werfen wir symbolisch alle Vorurteile ins Feuer“, erklärt Präsident, Filmemacher und Künstler Roman Lileikis, „so haben wir wieder Platz für Neue“.

„Straße des Todes“ steht immer noch in blutroter Schrift auf einer Hauswand an der Hauptstraße von Užupis, dem „Messerstecher“-Stadtteil, in dem einst die Armen lebten. Dann kamen die Künstler und jetzt die Investoren. In den schon renovierten Häusern eröffnen immer mehr Galerien und Cafés.

Künstlerrepublik Uzupis: Wappen -Engel auf einer Säule auf dem Hauptplatz

Unser Land ist so klein. Da ist Platz für alle

„Alles Übel“, sagt Roman Lileikis, entstehe doch aus dem Wunsch zu haben und zu besitzen“. Deshalb zeigt die Flagge von Užupis eine Hand mit einem Loch. „Alles fließt, wie unser Flüsschen hier.“

„Unser Land“, verspricht der Präsident, „ist so klein, da ist Platz für alle“. Dem Dalai Lama, der wie viele Diplomaten schon auf „Staatsbesuch“ in Užupis war, gab er auf eine schwierige Frage eine einfache Antwort. „Was macht ihr mit Kriminellen“, wollte der Tibeter wissen. „Wir leben mit Ihnen“, erwiderte Lileikis. „Wenn man sie kennt, mit Namen anspricht, beachtet und respektiert, geben sie Ruhe.“ Und das klappt? „Ja, zumindest hier.“

Bürger von Užupis sind sie nicht alle, aber „wohl die meisten“ der etwa 7000 Einwohner auf der Halbinsel, vermutet der Präsident. „Bürger wirst Du mit dem Herzen, indem Du Dich zu den Werten unserer Verfassung bekennst.“ Die hängt – in silber glänzendes Metall graviert – riesengroß an einer Hauswand. Jeder hat das Recht zu lieben, einmalig zu sein, Fehler zu machen, missverstanden zu werden, glücklich oder unglücklich zu sein. Garantiert ist auch das Recht zu weinen.

Blick vom Dachbalkon des neuen Rathauses auf die Altstadt

14 Kirchtürme vor dem Fenster

Wahrheiten gibt es viele in Litauens Hauptstadt Vilnius. 14 Kirchtürme sieht Roman Lileikis von seinem Fenster aus, guter Durchschnitt in der Stadt, der polnische Jesuiten mit ausladendem gegenreformatorischem Barock im 16. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten. An die 50 Kirchen fast aller christlichen Konfessionen ragen aus der Silhouette der mit 360 Hektar größten Altstadt Osteuropas, die die Vereinten Nationen zum Weltkulturerbe erhoben hat. Verschwunden sind die meisten Synagogen. 1939 bekannte sich rund jeder dritte Einwohner der Stadt zum jüdischen Glauben. Berühmte Gelehrte wie der „Gaon von Wilna“ Eliyahu Ben Salomon Zalman (1720-1779) begründeten einst den Ruf Wilnas, wie Vilnius früher hieß, als „Jerusalem des Nordens“.

Büste erinnert an den Wilnaer jüdischen Gelehrten Gaon Elijahu

Nur wenige der einst etwa 60.000 Wilnaer Juden haben den Holocaust überlebt. Dem offiziellen „Genozidmuseum“ sind die Ermordeten keinen Hinweis wert. Die Erinnerung bewahrt das kleine jüdische Museum. Originalfotos zeigen, wie aufgehetzte christliche Litauer auch ohne deutsche Mithilfe ihre jüdischen Nachbarn zu Tode prügelten.  Die wenigen, die –meist durch die Kanalisation – entkamen, schlossen sich den Partisanen an. Im Sommer 2008 ermittelte die litauische Staatsanwaltschaft an einer Anklage gegen die letzten Überlebenden.

“Jerusalem des Ostens”

Den Touristen zeigt sich Vilnius gerne weltoffen. In Scharen bestaunen die Gäste die in frischen Pastellfarben gestrichene, barocke Pracht der Kirchen, die an schicken Cafés und Restaurants reiche Flaniermeile Piles-Straße, das Tor der Morgenröte mit seiner Wallfahrtskapelle und den vielen silbernen Votivtafeln, das klassizistische Rathaus, die 1579 gegründete Universität mit ihren 13 im italienischen Renaissancestil erbauten Innenhöfen, die Kathedrale und Präsidentenpalast. Den Weg über die „Grüne Brücke“ finden nur wenige. Am anderen Ufer der Neris frisst sich das moderne Europaviertel mit seinem Einkaufszentrum und den gläsernen Hochhäusern immer tiefer in die letzte Holzhaussiedlung der Stadt. „Hier leben die sogenannten Zigeuner“, erklärt Frank Wurft, ein junger Deutscher, der vor rund zehn Jahren nach Vilnius gezogen ist. Auf seinen dreistündige Fahrradtouren zeigt er die etwas außerhalb gelegene, mit prachtvollem Stuck verzierte Peter- und Paul-Kirche ebenso wie das ehemalige sowjetische Einkaufszentrum „Minsk“, Plattenbau-Vororte, den früheren Kulturpalast des Innenministeriums sowie überraschende Blicke von den Hügeln der Umgebung und von einem Parkhausdach auf die Altstadt. „Die Litauer“, meint Frank, gelten als die Italiener des Baltikums“, spontaner und etwas chaotischer als die Nachbarn im Norden.

Künstlerrepublik Uzupis: Touristen lesen die Verfassung der Republik

 

 

Der Fluss hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen

Užupis-Präsident Roman ist in den Hinterhöfen von Vilnius aufgewachsen. Er liebt seine überschaubare Heimatstadt, weil „wir hier für unsere Fehler selbst verantwortlich sein können“. Schließlich „musst Du Du selbst sein, bevor Du andere verstehen kannst.“ Litauer, Polen, Juden, Russen, Weißrussen, Katholiken, Orthodoxe – alle seien hier immer friedlich miteinander ausgekommen. „Jeder hat das Recht am Fluss Vilnelè zu leben“, bestimmt Artikel 1 der Verfassung der Republik Užupis und „der Fluss Vilnelè hat das Recht, an jedem vorbeizufließen“.

Info:

Städtische Tourist-Info Vilnius:

Skulpturenpark in der (angeblichen) Mitte Europas:

Fahrradvermietung und organisierte Radtouren in Vilnius, Litauen, Lettland und Estland

Jüdisches Museum

Jiddisch-Kurse am Vilnius Yiddish-Institute

Alles über Litauen

Republik Uzupis im “Spiegel” 

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Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

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