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Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Auf den Spuren eines besonderen Lebensgefühls

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Auf den Spuren eines besonderen Lebensgefühls

Zuletzt aktualisiert am 1. März 2019 um 21:37

Plovdiv trägt 2019 den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Die Planer wollen die Menschen unter dem Motto „“together“ zusammenbringen. Während die frisch renovierte Innenstadt mehr als 6000jährige Geschichte feiert und im Kreativ-Quartier Kapana junge Leute an ihrer Zukunft bauen, verfällt am Stadtrand eines der größten Roma-Ghettos Europas.

WDR5 sendet Anfang Januar 2019 meine Radioreportage aus Plovdiv. Zum Nachhören findet Ihr/ finden Sie hier

Plovdiv trägt 2019 den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Die Planer wollen die Menschen unter dem Motto „“together“ zusammenbringen. Während die frisch renovierte Innenstadt mehr als 6000jährige Geschichte feiert und im Kreativ-Quartier Kapana junge Leute an ihrer Zukunft bauen, verfällt am Stadtrand eines der größten Roma-Ghettos Europas.

Plovdiv, Europäische  Kulturhauptstadt 2019: Logo Together (Gemeinsam)   der Europäischen Kulturhauptstadt Plowdiw 2019 in Plowdiw,
Logo Together (Gemeinsam) der Europäischen Kulturhauptstadt Plowdiw 2019 in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Mit 360.000 Einwohnern ist Plovdiv (oder Plowdiw) die zweitgrößte Stadt des Landes und mit Abstand die älteste: Gegründet von den Thrakern vor mehr als 6000 Jahren (manche sagen auch 8000) auf einem Hügel in der Ebene zwischen Balkangebirge und Rhodopen. Es gibt eines der besterhaltenen antiken Amphitheater der Welt, ein römisches Stadion, eine Altstadt mit prächtig eingerichteten alten Kaufmannshäusern, Roma, die in einem eigenen Stadtteil leben, weil sie sonst niemand haben will oder sie unter sich bleiben wollen, ein buntes fröhliches Künstlerviertel und ein ganz besonderes, entspanntes Lebensgefühl namens Aylak.

DJ Skill in seinem Retro-Plattenladen in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Aylak: Alles ist gut

Sonntag Morgen. Die Sonne taucht das Kreativ-Quartier Kapana in goldenes Herbstlicht. Die Barbesitzer stellen ihre Stühle raus. In der „Katz und Maus“ Bar oder nebenan im CU 29 mit der kleinen Kunstgalerie zischen die Kaffeemaschinen. Die ersten Gäste sitzen schon draußen auf Sesseln, Bistrostühlen und den Holzbänken. Der milde Wind spielt mit den bunten Wimpeln, die, an Schnüren aufgespannt, über den Kopfsteinpflaster-Gassen flattern. Der Zen-Moment: Alles ist gut.

Kreativquartier Kapana in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

In einem Artikel des US-Senders CNN hatte ich von Aylak gelesen, dem besonderen Plovdiver Lebensgefühl. Die Autorin beschreibt es als „entspannt, in sich ruhend und unerschüttert von all der Hektik des Alltags.“ „Ja“, beantwortet Vaselina meine Frage nach dem Aylak. „Das trifft es ganz gut“, Morgens in der Kapana erlebe sie es besonders intensiv. Die 33-jährige Marketingfachfrau arbeitet für „Lost in Plovdiv“, einen Online-Stadtführer mit Lokalzeitung und eigenem Blog. Wie fast alle jungen Leute hier spricht sie fließend Englisch. Viele haben im Ausland gelebt oder studiert.  Nun kommen sie zurück.

Logo Together (zusammen) der Europäischen Kulturhauptstadt Plowdiw 20189, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Gründergeist

„Hier gibt es so viele Möglichkeiten“, erzählt mir Vera. Auf ihrer Internetseite Green Revolucja, grüne Revolution, verkauft sie abfallfreie Produkte: wiederverwendbare Trinkhalme aus Metall, Naturkosmetik und Shampoo in Gläsern oder Zahnbürsten aus Bambus, die sie selbst entwirft. Bulgarien sei „für Start-Ups ideal“, schwärmt die junge Frau, die in England Public Relations studiert hat und nun zurück gekommen ist. Überall habe man schnelles Internet. Die Steuern seien niedrig. Weil es nirgends Bio-Waschmittel im Glas gab, fragte die quirlige Jungunternehmerin eine Bekannte, ob sie so etwas herstellen könne. Inzwischen arbeiten die beiden gut zusammen und sind Freundinnen geworden. „Was wir nicht finden, machen wir selbst“, erklärt Vera.

Aufbruchstimmung

Ihre Geschäftsidee hat sie aus Indien mitgebracht, wo sie in einem bio-veganen Camp einen Freiwilligendienst absolviert hat. Hier in Plovdiv hat sie sich mit dieser Erfahrung einen Job geschaffen, der ihr „Sinn gibt“.

Vor allem in der Kapana treffe ich auf optimistische Menschen, die ihr Leben in die Hand nehmen.

Kreativquartier Kapana in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

2012 hatte die Stadt beschlossen, das verfallene und fast verlassene ehemalige Handwerkerviertel am Rande der Innenstadt wieder zu beleben. Sie begann, leer stehende Läden in den zwei- und dreistöckigen Häusern für ein Jahr kostenlos an Unternehmensgründer zu vergeben. Viele renovierten selbst, eröffneten Kneipen, Clubs, Restaurants, Imbisse, Designerläden, Boutiquen oder Geschäfte für ausgefallene Souvenirs. Das Konzept ging auf. An den Wochenende ist die Kapana voll. Die Leute kommen bis aus Sofia zum Einkaufen, Feiern, Entspannen, Musik hören und wegen der Kunst. Valizar zum Beispiel hat zusammen mit seinen Eltern eine Bar aufgemacht und den Kellerraum zur Galerie umgebaut. Viele Ausstellungen kuratiert er bewusst nicht. Gezeigt wird, was die Künstler bringen. 

Street Art im Kreativquartier Kapana in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

A Plovdiv State of Mind

Neben der Kunst lockt die Musik Besucher in die Kapana. Gleich am Eingang des Kreativ-Quartiers hat sich Asiya ihren Traum erfüllt: Die begeisterte Swing-Tänzerin kündigte ihren gut bezahlten Job als Anwältin in Sofia, um hier die erste Swing-Bar des Landes zu eröffnen. In dem stylish-modernen Raum mit viel Holz und Stahl serviert ihre Mannschaft Cocktails nach den Original-Rezepten aus den USA. Obwohl ich sonst nie Cocktails trinke, fällt es mir schwer, keinen dritten Drink zu bestellen. Asiya organisiert das jährliche Swing-Festival mit zuletzt mehr als 800 Gästen, das nun Teil des offiziellen Kulturhauptstadt-Programms ist. Jeden Donnerstag lädt sie zur Swing Dance Night in ihre Bar. „Die Leute sind oft so begeistert, dass sie auf der Strasse weiter tanzen“, erzählt die Gründerin.

Das Geheimnis des Aylak

Natürlich frage ich auch sie nach dem Geheimnis des Aylak. Das Wort kommt aus dem Türkischen, wo es viele Bedeutungen hat. „It’s a Plodiv state of mind“ antwortet Asiya. „Den erreichst Du, wenn Du die Dinge mit Hingabe und Ruhe machst“: Runterkommen, entspannt in dem aufgehen, was Du gerade tust, eine Art Flow. Sie findet diesen Zustand im Swing.  

Souvenirgeschäft bietet Emaille-Schilder aus Ostzeiten in Plowdiw an, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Neuer Bürgerstolz

Plovdiv habe sich seit der Wahl zur Europäischen Kulturhauptstadt vor vier Jahren zum Positiven verändert: „Die Leute renovieren und dekorieren ihre Häuser“, schwärmt die Frau mit den langen dunklen Haaren und den knallrot geschminkten Lippen. „Überall eröffneten Kneipen und Läden.“ Es gebe immer mehr Kulturveranstaltungen und die Einheimischen hätten enorm an Selbstvertrauen gewonnen. „Sie glauben an sich und an ihre Stadt“. Neuer Bürgerstolz hat Plovdiv bunter und lebendiger gemacht.

Gleich um die Ecke in der ältesten Bar des Viertels, serviert Ivo mehr als 100 Sorten Bier. Daneben betreibt er mit Freunden eine online-Lokalzeitung. Aylak sieht er skeptisch. „Dafür fehlt mir die Zeit“, erklärt er mir und saust zum nächsten Termin: Einige Leute haben spontan eine Demonstration angesetzt. Ein Minister habe sich abfällig über Alleinerziehende und Frauen geäußert. Das wollen die jungen Leute nicht hinnehmen.

Zivilgesellschaft aus dem Netz

Allmählich entsteht in den bulgarischen Städten eine Zivilgesellschaft, die sich von den oft korrupten Politikern nicht mehr alles gefallen lassen. 

Gefunden habe ich Vaselina, Vera und viele andere im Internet. 

Auf Facebook tauschen sie sich aus, helfen sich gegenseitig und organisieren gemeinsame Ausflüge oder Kneipenabende. Mit einem Klick war ich aufgenommen. Viele wollten mir vom Leben in ihrer Stadt erzählen und mir ihre Lieblingsplätze zu zeigen.

Blick vom Nebet Tepe Hügel über Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Die Stadt von oben fühlen

Dilian zum Beispiel geht am liebsten durch die Gassen der Altstadt zum römischen Amphitheater. Hinter den weißen Marmorbänken des in den Berg gegrabenen Theaters taucht die untergehende Sonne die Innenstadt in goldgelbes Licht. Der Autor von Theaterstücken und Kurzgeschichten erklärt mir, was ich im Tal sehe, obwohl er fast blind ist. „Ich erkenne nur ein bisschen hell oder dunkel. Ich spüre den Wind und höre die Geräusche der Stadt.“ Eines seiner Gedichte entstand hier. Er liest vor, hält zwischendurch inne und geniesst den kühlen Abendwind. Mit 25 Jahren ist er Bulgariens Jugenddelegierter bei den Vereinten Nationen, fliegt nach London, New York, traf den UN-Generalsekretär zum Gespräch. 

Auf dem holprigen Weg über das extrem grobe Altstadtpflaster, aus dem Steine bis zu 20 Zentimeter weit herausstehen, führt ihn seine sehende Freundin. Die beiden sind ein eingespieltes Team.

Laden Love Plovdiv in der Magura Str. im Kreativquartier Kapana in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Auch Mihaela hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ihre fröhlich-bunten Handy-Fotos aus Plovdiv kamen auf Instagram gut an. Freunde brachten sie auf die Idee, die Aufnahmen auf Holzplatten, Kühlschrank-Magneten und als Postkarten drucken zu lassen. Sie mietete mit ihrem Bruder Petar zusammen einen winzigen Laden in der Kapana. Dort verkaufen sie die Bilder und andere Souvenirs. Petar liebt wie viele hier seine Heimatstadt. Obwohl er einen Studienplatz in Deutschland angeboten bekam, ist er geblieben. „Ich muss regelmäßig durch die Gassen der Altstadt laufen und brauche das Plovdiver Lebensgefühl“, erzählt mir der kräftige junge Mann. Aylak ist für ihn wie für seine Schwester Gelassenheit, Ruhe und Musse.

junge Frau fotografiert von einem Hügel die Stadtansicht von Plowdiw, um die Bilder auf instagram (LovePlovdiv) zu stellen, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Wie Rom auf Hügeln erbaut

Inspiration findet Fotografin Mihaela in der Kapana, der Altstadt und auf den Berglein. Plovdiv, wie Rom auf sieben Hügeln erbaut, schmiegt sich an die Aussichtsplätze, auf denen die Einheimischen gerne die Sonnenuntergänge über den Dächern der Stadt genießen. Ich begleite Mihaela auf ihren Lieblingshügel, den Danov. Wir gehen durch die frisch renovierte Fussgängerzone vorbei an der lebensgroßen Miljo-Statue: „Ein Plovdiver Original“, erklärt mir Mihaela. Ihn kannte hier jeder, er war immer da, stets freundlich und konnte schlecht hören. Deshalb hält sich die lächelnde Figur eine Hand ans Ohr.

Logo Together (zusammen) der Europäischen Kulturhauptstadt Plowdiw 20189, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Dahinter schlängelt sich der Weg zwischen einfachen Häusern des frühen 20. Jahrhunderts hinauf ins Grüne. Oben auf dem gepflasterten Aussichtsplateau steht ein altes, ostgrau verputztes Häuschen mit einem Sendemasten. Mihaela fotografiert mit ihrem Handy die Aussicht über die roten Dächer der Innenstadt bis in die Berge der Rhodopen. Zur anderen Seite blickt man über das Stadtzentrum mit der Fußgängerzone auf die Keimzelle Plovdivs. Ganz leiste rauscht im Tal der Verkehr. Der Wind säuselt in den bunten Herbstblättern der Bäume, während die Sonne hinter dem gegenüber liegenden Aljoscha-Hügel verschwindet. Das Gipfelchen trägt einen überdimensionalen Sowjet-Soldaten. Die Plovdiver wollten das Mahnmal aus sozialistischer Zeit behalten. Unten in der Stadt am Fuße des Danov harrt ein weiteres Überbleibsel der Nachkriegszeit seinem Schicksal.

leerstehendes Kino Kosmos aus sozialistischer Zeit in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Verfall im Kosmos

Nachdem mir so viele Leute vom legendären Kosmos-Kino erzählt haben, schaue ich mir den geheimnisvollen Bau aus der Nähe an. Realsozialistischer Brutalismus vom Feinsten: 2, 3 Etagen hohe Betonplatten mit Glasfronten und weiss-grauen Ornamenten, von denen der Putz bröckelt. Drinnen ein weiter Raum mit einer breiten, geschwungenen Freitreppe. Leider ist der Bau verschlossen. 

Postamt aus sozialistischer Zeit in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Nicht nur Plovdiv tut sich schwer mit den Hinterlassenschaften des „real existierenden Sozialismus“. Auch das einen Häuserblock große Postamt gleich hinter dem Rathaus weiss noch nicht, was aus ihm werden soll. Ein paar Läden halten in dem Komplex noch durch, eine Poststelle und das turnhallengroße Foyer. Im fahlen Licht eines Glasdachs haben zwei Jukkapalmen vor einem wandfüllenden abstrakten Mosaik die turbulenten Zeiten überdauert.

Die rote Diktatur wünschen sich die wenigsten Plovdiver zurück, auch wenn es damals (offiziell) keine Arbeitslosen gab. Nach 1989 haben sich einige Wenige das einstige „Volkseigentum“ unter den Nagel gerissen. Das Volk ging leer aus. 

Die am Rande sieht man nicht

Bitter war die „Wende“ vor allem für die Roma, die zu Ostzeiten zumindest einfache Jobs zugewiesen bekamen. So erhielten sie eine Ahnung davon, was Integration in die Mehrheitsgesellschaft bedeuten könnte. Ihre Arbeitsstellen sind längst verschwunden. 

Im heruntergekommenen Plattenbauviertel Stolipinowo am Stadtrand leben mehr als 50’000 der so genannten Zigeuner. Ein deutscher Kollege unterstützt seit den 90er Jahren eine Lehrwerkstatt am Rande des Viertels, in der Frauen aus der Siedlung das Nähen lernen. Seine Einladung zu einem Besuch dort nehme ich gerne an. Projektleiterin Maria, eine schlanke, energische Frau um die 40, holt mich mit einem uralten Peugeot ab. „Die hat ihren eigenen Willen“ sagt sie, als ich versuche, den Beifahrersitz zu verschieben. Keine Chance. 

Plattenbau-Wohnblock aus den 70er Jahren im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Wir fahren über eine sechsspurige Ausfallstraße nach Nordosten, bis wir vor einem rostigen Tor ankommen. Ein Wachmann grüßt und öffnet. Drinnen stehen weitere oker-grau-braune bröckelige Betonwürfel um eine Rasenfläche. Gebaut wurde das Areal vor der Wende vor allem für behinderte Menschen, die hier wohnen und arbeiten. Über lange Flure erreichen wir ein langes Klassenzimmer mit etwa zehn Nähmaschinen, an denen sechs junge Frauen sitzen. Sie unterhalten sich und scherzen in einer mir völlig fremden Sprache, die wie Türkisch klingt. Bulgarisch sprechen die meisten von ihnen kaum. Ein bisschen unsicher schaue ich in freundliche, runde Gesichter. Ihre Wünsche klingen für mich bescheiden. Sie möchten einen Beruf lernen, Arbeit finden und ihr eigenes Geld verdienen. 

Zukunftsnäherei: Näherinnen-Ausbildung für Frauen in Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw: Frauen nähen an Nähmaschinen, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Nähen für eine bessere Zukunft

Auf die Frage, ob ihre Familien am Ende des Monats nicht genug zu essen haben, nicken einige verschämt. Die meisten Männer schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, handeln mit allem Möglichen, arbeiten bei der Müllabfuhr oder als Strassenkehrer. Schätzungen zu Folge können bis zu 80% der Roma in Stolipinowo weder lesen noch schreiben. Maria erzählt mir, dass viele Bewerberinnen die sechsmonatige Ausbildung in der machen möchten. Oft bestünden jedoch die Ehemänner darauf, dass „ihre“ Frauen zuhause bleiben. Fotografieren darf ich die angehenden Näherinnen nicht. Ihre Männer würden sie dafür verprügeln. Mein Kollege Mirko, der mir den Kontakt vermittelt hat, versichert mir, dass die Zukunftsnäherei allen Absolventinnen einen Job im ersten Arbeitsmarkt vermitteln könne. Das sei einmalig in Bulgarien. Die Textil-Unternehmen  warteten schon auf den nächsten Jahrgang. Trotzdem bekäme man keine Geld, weder vom Staat noch von der Stadt. Zuschüsse der Europäischen Union erhält nur, wer einen Eigenanteil einbringt. Die Gemeinde hat den Zukunftsnäherinnen nur das Gebäude mietfrei überlassen. Renovieren mussten sie selbst. Die Auszubildenden bekommen rund 80 Franken im Monat. Bezahlt werden müsse außerdem die Projektleiterin, das Material und die Ausbilderin.

Lampengeschäft im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Zurück in der Innenstadt frage ich, wer sich in Stolipinowo auskennt und mich dort hin begleiten könne. Neli organisiert bei der Stiftung für die Europäische Kulturhauptstadt Projekte in der Roma-Siedlung. Sie ist in einem der Plattenbauten am Rande des Viertels aufgewachsen. Dort leben vor allem ethnische Bulgaren. Gemeinsam machen wir uns auf die Reise. Im westlichen Teil des »Roma-Ghettos« schrauben Männer an der matschigen Strasse an alten Autos. Andere verkaufen Hausrat auf dem Bürgersteig oder in winzigen Läden. Es gibt die in Bulgarien beliebten kleinen Kioske, die von Zigaretten über Kekse, Wasser, Bier und billigen Wein bis hin zu Klopapier alles für den Alltag anbieten.

Plattenbau-Wohnblock aus den 70er Jahren im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Überleben bis das Bauamt kommt

Am Rand der Siedlung trotzen aus rohen Ziegeln, Holz, Plastikresten und Wellblech selbstgezimmerte Hütten dem Regen: Illegale Bauten, die die Bewohner immer wieder abreißen müssen, um sie dann schnellst möglich wieder aufzubauen. Viele sehen nicht ein, dass sie eine Baugenehmigung benötigen oder es fehlt ihnen dafür das Geld. Wasser holen viele aus dem nahen Fluss. Strom zapfen sie von einem der umstehenden Hochhäuser. Am Straßenrand liegen Berge von Müll. Dazwischen spielen Kinder. Ein Mann um die 40 spricht uns  an: „Aus Deutschland?“ Er war auf der Suche nach Arbeit im Ruhrgebiet und ist nun wieder zurück. „Hier alles Scheisse: Kein Geld, kein Essen, kein Trinken, keine Arbeit“, schimpft er. 

Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Alles ganz normal

Neli bringt mich zu einer Art Stadion am Rande der Siedlung. Dort feiern die Bewohner aufwändige Hochzeiten. Viele Mädchen werden von den Eltern immer noch mit zwölf oder 13 Jahren verheiratet. Mit 18 haben manche schon drei Kinder. Bildung bleibt in solchen Familien oft auf der Strecke. Von Stolipinowo bekomme ich ein differenziertes Bild. Es gibt eine reichere Gegend, wo die sich die Clanchefs Häuser bauen und die verfallenen Plattenbauten aus den frühen 70ern. An manchen Wohnungen fehlen die Scheiben. 

Hochzeitsstadion im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Neli erinnert sich an ihre Kindheit in den 90ern. Mit den Roma hatte weder sie noch ihre Eltern ein Problem. „Das waren ganz normale Nachbarn, wie alle anderen auch“.

Nach einer Woche verlasse ich Plovdiv mit gemischten Gefühlen. Die engagierten jungen Leute in der Kapana haben mich mit  Elan und Optimismus begeistert, die Eindrücke in Stolipinowo deprimiert. Die bulgarische Politik wird in Sofia gemacht, weit weg von den Problemen im Land. Vor Ort engagieren sich immer mehr Menschen für ein besseres Miteineinander, seie es in der Zukunftsnäherei oder der Bürgerinitiative, die Plovdivs erfolgreiche Kulturhauptstadtbewerbung angestossen hat. Das macht Hoffnung.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019
Blick vom Danov-Hügel auf Plowdiw im Sonnenuntergang, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Info:

Allmählich entdecken Städtereisende Bulgariens zweitgrößte Stadt in der dünn besiedelten Mitte des Landes. Die üblichen Pubcrawls, geführten Velo-Touren, Themen-Stadtführungen und anderen Events für Touristen gibt es noch nicht. Wer mag, kann sich vor dem Rathaus einer kostenlosen Free Walking Tour anschließen: freeplovdivtour.com. 2019 ist Plovdiv Europäische Kulturhauptstadt. Unter dem Motto „Together“ (zusammen) gibt es ein umfangreiches Kulturprogramm www.plovdiv2019.eu. Die Stadt rechnet mit mehr als zwei Millionen Besuchern. 

Tourist-Info Plovdiv

Tourismusportal Bulgarien

Eurolines Busse nach Sofia

Anreise:

Flüge mit wizzair oder (im Sommer mit) Ryanair von Fra-Hahn direkt nach Plovdiv. Außerdem fliegt die Bulgaria Air u.a. nach Bulgarien. Vom Flughafen Sofia (Achtung: Die meisten “Billigflieger” landen auf dem 1949 erbauten, weitgehend im Original erhaltenen alten Flughafe) sind es rund 130 km nach Plovdiv. Vom zentralen Busbahnhof in Sofia (mit Fahrplan auch auf Deutsch) fahren Busse u.a. von Hebrosbus in 2 Stunden nach Plovdiv . 

Fernbusse fahren vom Busbahnhof u.a. nach Deutschland (z.B. Freiburg) und Österreich (z.B. Innsbruck)

Die (langsameren) Züge starten am Hauptbahnhof direkt nach Plovdiv ,

Plovdiv Blogs

Plovdiver Reise- und Infoseiten Lostinplovdiv mit eigenem Blog aus der und über die Stadt und Madamebulgaria mit mehreren Beitragen aus und über Plovdiv

Plovdiv Kapana

Die Stadt hat das ehemalige Handwerker- und Marktviertel Kapana zum Kreativquartier umgebaut. Der Name erinnert an das alte türkische Wort für Markt und für eine öffentliche Waage – aber auch an „Falle“, weil man sich früher in den engen Gassen schnell verlaufen konnte. Nachdem die Kapana lange weitgehend leer stand und verfiel, bot die Stadt ab 2012 Start Ups, Künstlern und anderen Kreativen die Läden an. Die Gassen der Kapana wurden zur Fussgängerzone. Junge Leute eröffneten zahlreiche Bars, Cafés, Kneipen, Galerien, Ateliers und Läden für Selbstgemachtes.

Strassencafe im Abendstimmung im Kreativquartier Kapana in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Aylak

Entspann Dich, du bist in Plovdiv. Angeblich haben die Menschen hier die Ruhe weg. Der perfekte Moment der Entspannung, Präsenz, Ruhe und Lebensfreude ist Aylak. Der Name des besonderen Plovdiver Lebensgefühl, eine Art konzentrierte, entspannten Zen-Moment im Alltag, kommt vom türkischen aylak, bei  pons mit „müssig“, bei Langenscheidt auch „herumlungernd“ übersetzt. Ob es Musse oder Müssiggang ist?

Plovdiv Fussgängerzone Knyaz (Fürst) Alexander I:

Mit 1,75 km angeblich die längste Europas vom sehenswerten alten Riesen-Postamt aus betonsozialistischer Zeit vorbei am rund 120 Jahre alten Rathaus bis zum Fluss Maritsa. An der  Flaniermeile reihen sich neben post-sozialistischen Allerweltsbauten zahlreiche Häuser aller Stilrichtungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, darunter Klassizismus, Secession und Art Deco.

junge Frauen mit muslimischen Kopftüchern schießen Selfies auf den Marmor-Sitzbänken der Römischen Arena in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Unter der Fussgängerzone verläuft eine 240 Meter lange römische Sport- und Wagenrennbahn. Anfang (auf dem Platz vor der prächtigen türkischen Moschee) und Ende (Nähe Rathaus) haben die Archäologen freigelegt. Weitere Ausgrabungen finden sich versteckt (aber frei zugänglich) gegenüber der H&M Filiale und unter dem Excelsior-Einkaufszentrum. 

Plovdiv Altstadt:

Plovdiv, Europäische  Kulturhauptstadt 2019: Blick durch eine Altstadtgasse auf den Turm der orthodoxen Kirche Konstantin und Elena in Plowdiw am Abend
Blick durch eine Altstadtgasse auf den Turm der orthodoxen Kirche Konstantin und Elena in Plowdiw am Abend, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Städtische Altstadt-Institut:

Plovidiv ist eine der ältesten durchgehend besiedelten Städte der Welt. Erste Siedlungen gab es hier vor mehr als 6.000 Jahren. Thraker, Griechen, Römer, Türken, Armenier, Juden und viele andere haben ihre Spuren hinterlassen.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Altstadtgasse
Altstadtgasse uin der warmen Herbstsonne in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

In den Gassen der Altstadt liegt das grobe Kopfsteinpflaster aus rohen Steinen früherer Jahrhunderte. Die Kaufmanns- und Tabakfabrikanten-Häuser aus der Zeit der Wiedergeburt Bulgariens (nach dem Ende der osmanischen Herrschaft 1878) sind frisch restauriert und blau, rot, braun oder weiß gestrichen. Manche kann man besichtigen.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Hindlijan Haus aus dem 19. Jahrhundert im türkisch-orientalischen Stil
Inneneinrichtung im Hindlijan-Haus in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Gründer haben einige der alten Häuser zu Hostels und Hotels umgebaut. In manche sind Galerien eingezogen. Tipp: Meist lohnt sich ein Blick in die üppig-grünen Gärten, vor allem im Sommer eine kühlende Wohltat. 

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Weberin Slava Baldijeva in ihrem Webatelier an der Handwerkerstraße in Plowdiw, in dem Touristen die Grundlagen der traditionellen bulgarischen Handweberei lernen können
Weberin Slava Baldijeva in ihrem Webatelier an der Handwerkerstraße in Plowdiw, in dem Touristen die Grundlagend er traditionellen bulgarischen Handweberei lernen können, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

In der Handwerkerstrasse (Street of Crafts, auf Englisch ausgeschildert) haben Kunstschmiede, Maler, ein Puppenspieler und andere Kunsthandwerker Ateliers eröffnet. Manche wie die Weberin Slava Baldjieva (ul. Saborna 61, Tel. +359 878341263, gemos63@gmail.com) bieten Besuchern Einführungskurse in ihr Handwerk an.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Römisches Amphitheater im Sonnenuntergang über der Stadt
Römische Amphitheater im Sonnenuntergang in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Römisches Amphitheater:

Plovdiv hieß Philippolis, als die Römer hier im 2. Jahrhundert eines der heute besterhaltenen Amphitheater mit etwa 5000 Plätzen in einem Halbkreis bauten. Beliebt sind die Konzerte, Opernaufführungen oder einfach ein Sundowner mit Blick auf die Stadt, die gegenüberliegenden bewaldeten Hügel und Rhodopen-Berge.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Blick vom Nebet Tepe Hügel auf den Sonnenuntergang über der Stadt
Frau geniesst den Blick vom Nebet Tepe Hügel über Plowdiw im Sonnenuntergang, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Aussichtshügel Nebet Tepe: 

Einen der besten Blicke über die Stadt in die untergehende Sonne bieten der Hügel mit seinem römischen und thrakischen Trümmerfeld. Hier fanden sich auch die Spuren der ersten Besiedlung. Der bequemere Aufstieg führt durch die Altstadt, der geheimnisvolle über die steilen, in die Felsen geschlagenen Stufen auf der Nordseite. Im 4. Jahrhundert entwickelte sich Plovdiv von hier aus zu einer der wichtigsten Städte im mazedonischen Königreich.

Plovdiv Ethnografisches Museum:

Bulgariens zweitgrößtes kulturgeschichtliches Museum lohnt sich schon wegen der Architektur. Die Ausstellung residiert im reich verzierten Kuyumdzhieva-Haus aus der Zeit der Bulgarischen Wiedergeburt Ende des 19. Jahrhunderts. Sie zeigt die Kultur der Thraker (Vorfahren der heutigen Bulgaren und Quelle der „nationalen Identität“ heute) sowie Einrichtung und Alltagsleben nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft. 1. Do. im Monat freier Eintritt

Den besten Blick auf die Alt- und die Innenstadt bieten die gegenüber liegenden Hügel Danov, Alyoscha (mit der riesigen Statue eines Sowjet-Soldaten) und dem Jugendhügel weiter südwestlich.

Plovdiv Kleine Basilika

Am Fuße der Altstadt (Knyaginya Maria Luiza Blvd. 31 A) haben Archäologen eine der ältesten Kirchen der Welt aus dem 5. Jahrhundert ausgegraben. Zu sehen sind in dem darüber errichteten modernen Museumsgebäude die original Fussbodenmosaike und das in den Boden eingelassene Taufbecken. 

Street Art im Kreativquartier Kapana in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Ausgehen:

Plovdiv Kapana: 

In der Kapana gibt es Kneipen und Bars für fast jeden Geschmack. Vor allem Do. – Sa. spielen in vielen Kneipen Live-Musiker.  Angesagte Clubs sind das Bee Bop Café (Jazz) das Fargo , der Art Club Nylon oder das Petnoto na Rorschach

Mit dem Gingertale hat sich die ehemalige Anwältin Aysa Vladimirowa einen Traum erfüllt. Sie liebt den Swing so sehr, dass sie ihren gut bezahlten Job in einer Sofioter Anwaltskanzlei kündigte, um zuhause in Plovdiv eine Swing-Bar im Stil der 20er Jahre zu eröffnen. Donnerstags ab 21 Uhr 30 gibt es eine Swing Dance Night 

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Frisches Gemüse auf dem Markt
Paar kauft frisches Gemüse auf einem Wochenmarkt in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Märkte:

Vor allem zur Erntezeit quellen die Märkte über von frischem Obst und Gemüse: Faustgroße Tomaten, Äpfel, saftige Birnen, Melonen oder Kräutern aus den nahen Bergen: im milden Klima der Region gedeiht alles prächtig. Für Dünger und Spritzmittel haben viele Kleinbauern kein Geld. So sind ihre Produkte oft „Bio“, auch wenn sie nicht so heißen. Auf dem Markt sind die Produkte frischer und deutlich billiger als in den Supermärkten. Ein Kilo Tomaten zum Bespiel bekommt man für weniger als einen Franken. Früher fanden die Wochenmärkte abwechselnd in verschiedenen Vierteln statt. So gibt es immer noch den Montags- Dienstags-, … Samstagsmarkt. Einen Bummel lohnen sie alle. 

Geld:

Bulgarien ist Mitglied der Europäischen Union, hat aber seine Währung, den Lew (Mehrzahl: Lewa) behalten und an den Euro gekoppelt. Für 1 Euro bekommt man 1,96 Lewa. Umtauschen kann man in einer der zahlreichen Wechselstuben, die ihre Kurse ausgehängt haben. In der Stadt ist der Umtausch günstiger als am Flughafen. Geldautomaten akzeptieren die gängigen Karten. Für Mitteleuropäer ist Bulgarien günstig. Die Kaufkraft eines Euro ist knapp doppelt so hoch wie in Deutschland. Dafür sind die Gehälter in Bulgarien niedrig. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 510 Lewa/Monat

Plowdiw, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Plattenbauten an einer Ausfallstraße in Plovdiv
sozialistische Plattenbauten an der Ausfallstrasse Vasil Lewski in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Freundliche, hilfsbereite Exilanten und Expats auf facebook aus aller Welt in Plovdiv

Plovdiv Kontakte:

Leben in und um Plovdiv auf facebook

Plowdiw, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Wohnblock  im Roma-Viertel Stolipinowo
Wohnblock im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Stolipinowo:

Der Stadtteil beherbergt eine der größten Roma-Siedlungen Europas. Da viele Bewohner mit ausländischen Besuchern schlechte Erfahrungen gemacht haben, sind Fremde dort nicht unbedingt willkommen. Vor allem fotografierende Touristen machen sich schnell unbeliebt. Wer mit Einheimischen zusammen das Viertel erkundet, wird dagegen meist auf freundliche, aufgeschlossene Menschen treffen.

Plowdiw, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Neli  mit Roma Kindern in Stolipinowo
25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Plovdiv Roma

Im Mittelalter kamen die Roma (Rom = Mensch) vermutlich aus Indien nach Südosteuropa, wo viele von ihnen blieben. Als Nomaden (Zigeuner) zogen sie mit Wagen durch die Landschaft und lebten vor allem von Handwerksarbeiten und Kleinhandel, die schon lange niemanden mehr ernähren.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Typischer kleiner Kiosk vor einem heruntergekommenen Plattenbau in Stolipinowo
Plattenbau-Wohnblock aus den 70er Jahren im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Heute leben schätzungsweise zwölf Millionen Roma in der Europäischen Union, die meisten von ihnen auf dem Balkan. Die Vorurteile über die so genannten Zigeuner sind überall die selben: Die Roma  seien “faul und schmutzig, saufen und klauen.“ Trotz millionenschwerer Programme der Europäischen Union kommt die Integration von Europas größter Minderheit kaum voran. Wer mit Roma spricht, erhält ein differenzierteres Bild: Ihre angeblich mit europäischen Sitten und Werten unvereinbare „Kultur“ ist vor allem in Osteuropa ein Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung. Einer Studie von 2016 zufolge leben in Bulgarien 86 Prozent der so genannten Zigeuner unter der Armutsgrenze, 30 Prozent in absoluter Armut. Die Lebenserwartung der Roma liegt um zehn Jahre unter dem Landesdurchschnitt.

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Roma-Frauen lernen nähen in der Zukunftsnäherei
Zukunftsnäherei: Näherinnen-Ausbildung für Frauen in Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw: Frauen nähen an Nähmaschinen, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Zukunftsnäherei

In der „Zukunftsnäherei“ lernen Frauen aus der Roma-Gemeinde in Stolipinovo das Nähen an gespendeten alten Nähmaschinen. „Wir garantieren jeder Absolventin einen festen Job im ersten Arbeitsmarkt“, verspricht der deutsche Journalist Mirko Schwanitz, der die Lehrwerkstatt mit aufgebaut hat und weiterhin begleitet. Die Unternehmen stünden Schlange, um die Absolventinnen der sechsmonatigen Ausbildung einzustellen. Während die Unternehmen qualifizierte Kräfte suchen, haben neun von zehn Roma-Frauen in Bulgarien keine Berufsausbildung. 70 Prozent sind arbeitslos, viele können kaum oder gar nicht lesen und schreiben. Zuhause sprechen sie eine eigene Mischung aus Türkisch, Bulgarisch und Romanes. In der Ausbildung lernen sie auch Bulgarisch, das sie fürs Arbeitsleben brauchen. Weitere Infos auch zu dringend benötigten Spenden unter dem Stichwort Zukunftsnäherei auf betterplace.org

Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Ein Junge lernt Geige im Projekt Musik statt Straße
Projekt “Musik statt Strasse” in Plowdiw: Roma-Kinder lernen Geige und klassiche Musik, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

Musik statt Straße

Ganz andere Wege geht das Projekt „Musik statt Strasse“, das Roma-Kindern Geigenunterricht in klassischer Musik ermöglicht. Die Musik öffnet Herzen und gibt den jungen Leuten das Gefühl etwas zu erreichen und andere positiv beeindrucken zu können. Nur starke, selbstbewusste Kinder haben eine Chance, aus dem Kreislauf von schlechter Bildung, Benachteiligung und extrem autoritären, oft bildungsfeindlichen Familien auszubrechen. Immerhin haben von 30 Teilnehmer/innen des Programms sechs den Sprung auf eines der anspruchsvollen bulgarischen Musikgymnasien geschafft. Auch dieses Projekt findet sich mit vielen weiteren Infos auf betterplace.org, meine Radioreportage über Musik statt Straße hier.

typischer Kiosk im Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman

weitere Infos über die Roma beim European Roma Rights Centre

Roma-Viertel Stolipinowo in Plowdiw, 25.10.2018, Foto: Robert B. Fishman


Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

2 Antworten auf „Plovdiv, Europäische Kulturhauptstadt 2019: Auf den Spuren eines besonderen Lebensgefühls“

Ein wirklich schöner und ausführlicher Beitrag, den du hier geschrieben hast. Ich finde die Idee der europäischen Kulturhauptstadt echt toll und dass tatsächlich auch der Fokus auf die kleineren Städte gelegt wird. Ich habe definitiv einiges durch deinen Artikel gelernt. Danke!

Hallo Robert, ich schreibe zusammen mit meiner Schwester Maria eine Abschlussarbeit für einen Lehrgang”Interkulturelles Lernen” und wir würden bei unserem Besuch Mitte Juli 2019 auch Stolopinovo besuchen, weil dies auch inhaltlich gut in unsere Arbeit passt. Könntest du uns einen Kontakt vermitteln, damit wir, wir reisen mit unseren beiden Söhnen (sind junge Erwachsene), dort die Möglichkeit hätten, den Romastadtteil zu besuchen und eventuell an einen oder mehrere Bewohner Fragen zu stellen und/oder überhaupt Einblick zu bekommen.
Falls dem so ist, freue ich mich auf eine Rückmeldung.

Deine Beschreibungen sind großartig und ich freue mich jetzt schon auf meinen Besuch in Plovdiv im Juli dieses Jahres. Liebe Grüße Ingrid!

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