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Marseille: 111 Dörfer

Zuletzt aktualisiert am 7. Juli 2017 um 0:15

Das alte Marseille verschwindet. Am ehemaligen Industriehafen entsteht für mehrere Milliarden Euro eine neue Stadt mit Büros, Wohnungen, Einkaufstempeln, Promenaden und Museen. Die Innenstadt mit Europas größter nordafrikanischer Einwanderergemeinde wird für viel Geld saniert. Wer finanziell  nicht mithalten kann muss raus.  2013 trägt die Fast-Millionenstadt am Mittelmeer den Titel Europäische Kulturhauptstadt. 
Markstand im Einwandererviertel Nouaille
Markstand im Einwandererviertel Nouaille

Die Kopflampe des Barkeepers wirft einen schwachen Schein in den rappelvollen Raum. Auf der Theke brennen eine handvoll Teelichter. Hinter dem schwarzen Vorhang, der das Foyer vom Saal trennt, ist es stockdunkel. Ein junger Mann verteilt in der Finsternis warme Gläser, in denen kleine Löffel stecken: „Chocolat Magique“, Zauberschokolade: Schokolade, Karamelzucker und Reiswaffeln. Lecker. Die Dunkelheit schärft die Sinne. Alles schmeckt intensiver.

Jeden letzten Dienstag im Monat laden Frédéric und Isabelle Freunde, Gäste und Interessierte zu einem besonderen Ereignis. Diesmal ist es das Essen im Dunkeln. WAAW nennen die beiden ihre lose Gemeinschaft aus Menschen, die sich für Kunst. Kultur und Kommunikation in Marseille interessieren. Die Abkürzung steht für „What an Amazing World“, welch eine erstaunliche Welt.

Viele Kulturmenschen machen Angebote, andere suchen Anregung. Doch oft finden beide nicht zusammen. So mieteten Frédéric und Isabelle in einer kleinen Seitenstraße, einen rund 70 Quadratmeter großen Raum und verwandelten ihn mit alten Sofas und Tischen in ein gemütliches Café. Hier laden sie Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Modeschöpfer, Regisseure und andere Kreative ein, die ihre Werke in lockerer Runde bei einem Glas Wein und leckeren Häppchen vorstellen.

Cours Julien
Cours Julien

„Wir möchten Netze schaffen, Begegnungen“, begründen die Beiden ihr Projekt. Dabei wollen sie den Mitgliedern ihres Netzwerks nichts Vorgefertigtes servieren, sondern Neuem Raum geben, das aus der Kommunikation unterschiedlichster Menschen entsteht. Manchmal sind es gemeinsame Ausflüge, Theaterbesuche, Gespräche oder andere Entdeckungen in Marseille. Auch auf Ihrer Internetseite informieren die WAAWis über ihr Programm, über andere Projekte und Angebote in der Stadt. „Marseille“, sagt Frédéric, ist vor allem eine Stadt der Netzwerke. Die Leute bewegen sich in ihrem Kreis und erfahren kaum, was es darüber hinaus noch gibt. „Das wollen wir ein bisschen ändern.“

Ihren Standort haben die beidem WAAW- Gründer gut gewählt. Rund um den Cours Julien, den großen Platz mit den alten Bäumen und den Sitzbänken, entstehen laufend neue Galerien, Kneipen, Cafés und ausgeflippte Läden. Quartier des Créateurs, Viertel der Kreativen nennt sich die Ecke. Im Equitable Café, dem Café des Fairen Handels finden fast jeden Abend Lesungen, Konzerte und Diskussionen statt. Daneben hat Lola Marmelade ihr Modeatelier aufgemacht. Sie entwirft und produziert ihre ausgefallenen Kleider, Röcke und Accessoires hier selbst. Zwei Häuser weiter rattern die teilweise 100 Jahre alten Maschinen der letzten traditionellen Seifensiederei der Innenstadt. Der Cours Julien mit seinen schmalen Seitenstraßen, den vielen Cafés, kleinen Restaurants und Läden ist eines der 111 Dörfer, aus denen Marseille besteht.

Marseille-Nord: Schließfächer, für Leute, die sich die Innenstadtmieten nicht mehr leisten können
Marseille-Nord: Schließfächer, für Leute, die sich die Innenstadtmieten nicht mehr leisten können

Die Leute leben hauptsächlich in ihren Vierteln, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Die grauen Hochhaussiedlungen, in denen sich alle sozialen Probleme aus den Soziologen-Lehrbüchern ballen, Drogen, Mord und Totschlag inklusive, die reiche teure Corniche mit ihren Villen auf Felsvorsprüngen über dem blau-smaragdgrün leuchtenden Meer, die neuen In-Viertel an der Rive-Neuve am Südostufer des Alten Hafens, Frankreichs ältestes Stadtviertel, der inzwischen teuer sanierte Panier oder das arabische Quartier mit seinem Bazar und den vielen Bärtigen, die den rechten Glauben predigen. Arabisch ist auch das Nouailles-Viertel zwischen Cours Julien und Altem Hafen: In den von bunten Graffity übersäten, zum Teil arg herunter gekommenen Häusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert  wohnen vor allem Einwanderer aus Nordafrika: Ein riesiger Markt, fast komplett in arabischer Hand, viele Läden und jede Menge Leute. Fotografierende Touristen sind hier weniger beliebt. „Was fotografierst Du hier? Pack die Kamera weg“, schreit einer. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hat erklärt er: „Viele leben hier illegal.  Die Gegend ist voll mit Polizeispitzeln.“

arabischer Klamottenladen im Einwandererviertel Belsunce: Schaufensterpuppe f¸r Kopft¸cher

Jenseits der einstigen Prachtmeile Canebière zieht sich Nordafrika weiter bis zum Aixer Tor und dem Hauptbahnhof Saint Charles:  Handyläden, 1-Euro-Ramsch-Shops, Imbissbuden, sind in die Erdgeschosse der von Russ und Abgasen angegrauten einstigen Bürgerhäuser gezogen, dazwischen Schmuck- und islamisch-korrekten Bekleidungsgeschäfte in deren Schaufenster Frauenköpfe aus Plastik die gerade angesagte Kopftuchmode zeigen. Andere präsentieren blütenweiße Brautkleider oder glitzernden Goldschmuck. Draußen eilen bärtige Männer vorbei, manche in orientalische Kaftane gekleidet, verschleierte Frauen mit Kinderwagen und coole Jungs in Kapuzenpullis. Manche tragen verspiegelte Sonnenbrillen, viele haben ihr Handy ständig am Ohr. Wie Raumschiffe durchziehen die gläsernen, nagelneuen Straßenbahnen  diese untergehende Welt des anarchischen Wildwuchses in der „größten Stadt Nordafrikas auf europäischem Boden“.

Investmentfonds haben viele Häuser zum Beispiel in der einst prächtigen Rue de la République mit ihren Haussmann-Fassaden gekauft, die Wohnungen (oder wie viele sagen „nur die Fassaden“)

saniert und die Mieten um bis zu 300 Prozent erhöht.  Unten am Alten Hafen entsteht ein neues Fünf-Sterne Hotel und die Preise sind explodiert.

Christian, ein älterer Herr, erzählt in gesetzten, überlegten Worten die Geschichte seines Vereins „Un Centre Ville pour Tous“, „eine Innenstadt für alle.“ Marseille sei immer eine arme Stadt gewesen, auch und gerade im Zentrum. Weil die alten Bürgerhäuser immer mehr verfielen sollten private Investoren die maroden Gebäude sanieren. Die kauften ganze Straßenzüge, erneuerten wie vorgeschrieben Dächer und Fassaden und erhöhten die Mieten. Der Bürgermeister von der Regierungspartei UMP, hätte ihnen schließlich garantiert, dass sie ihre Investitionen wieder hereinholen könnten.

Fischmarkt am Alten Hafen
Fischmarkt am Alten Hafen

Gemeinsam gründeten Stadt und Privatunternehmen die Sanierungsgesellschaft Marseille Aménagement, die für die gesetzeskonforme Umsetzung der Renovierung sorgen sollte. „Die haben aber gar nicht genug Leute um das zu kontrollieren“, erklärt Christian. So wird gebaut, gepfuscht und bei den Mietern kassiert. Wehren könnten sich die wenigsten. Viele Innenstadtbewohner fürchteten um ihr Bleiberecht. Wenn sie der Vermieter vor die Tür setzt, können sie ausgewiesen werden, weil sie dann keinen Wohnsitz mehr in Frankreich haben. Manche Eigentümer nutzten dies gnadenlos aus. „Marchands du Sommeil“, Händler des Schlafes nennt Christian Hauseigentümer und Verwalter, die Zimmer in maroden Innenstadthäusern einzeln oft zu völlig überhöhten Preisen gleich mehrfach an zumeist arabische Einwanderer vermieten. Wer nicht zahlt fliegt raus. Inzwischen trifft der Wandel auch Familien, die die teuren Mieten in der Innenstadt nicht mehr bezahlen können.

Im kleinen Hotel „vertigo“ in einer Altstadtgasse am Bahnhof räumt Sévérine, die Zimmer auf, putzt und macht die Betten. Die freundliche junge Frau mit den langen dunklen Haaren ist in Marseille geboren und aufgewachsen: „Früher“, erzählt sie, „war Marseille sehr gemischt. Aber jetzt packen sie die ganzen Moslems auf die eine Seite und die Franzosen auf die andere.“ Sévérine wohnt mit Mann und Kind in La Joliette – mitten im Sanierungsgebiet. Die 28jährige ärgert sich über die sozialen Gräben, die die Stadt immer weiter teilen: „Sie haben die Leute aus La Joliette umgesiedelt. Jetzt verkaufen sie die Wohnungen nur noch an Franzosen und an Reiche. Und die Armen konzentrieren sich weiter oben.“  – in ihrer Nachbarschaft. Ihr elfjähriger Sohn habe fast nur noch Moslems in seiner Klasse.  An den islamischen Feiertagen bleibe die Schule geschlossen, „weil sich der Unterricht für die drei nichtmuslimischen Kindern nicht lohnt.“

Auf den ersten Blick scheint sich der Alltag in Marseille deswegen nicht zu verändern. Schon im Januar drängen Anwohner und Touristen mittags auf die Terrassen der Straßencafés. Die Sonne flutet die Stadt mit ihrem im Winter goldgelben Licht, ganz so, als hätte sie für viele Welten mehr als genug davon.

Im Alten Hafen laden die Fischer seit 2000 Jahren jeden Morgen den frischen Fang von ihren Booten: Flundern, Seewolf, Muscheln und sogar Seepferdchen. Manche der Fische zappeln noch. Sie starren Passanten aus wassergefüllten Plastikwannen mit großen Augen an. Es riecht nach Meer, nach Sonne und nach reichlich Zeit.

Eine Fischerin verkauft spiegelglatte, bonbongroße orange-weiss marmorierte Steine, die im Meer Muscheln als Verschluss dienen: Die Augen der Heiligen Lucia.  „Wer sich eines davon in den Geldbeutel legt, hat immer genug zum Leben“, verspricht die Frau. „Wir glauben dran“, schließlich sei dies eine jahrhundertealte Tradition. Zwei Euro verlangt sie inzwischen für die Muschelstücke.

Blick auf die Skyline von Marseille mit dem Alten Hafen und dem ersten Hochhaus (blau) des 3 Mrd. Euro teuren Stadtentwicklungsprojekts EuroMediterranee / view to the waterfront of Marseille with the 3 billion Euro development project EuroMediterranee / 20.03.2011, Foto: Robert B. Fishman, ecomedia, C3455Ganz andere Summen bewegen Stadt, Staat und EU in Marseille: Für mehrere Milliarden Euro entsteht EuroMediterranee: eine neue Stadt in der Stadt mit blau funkelnden Glastürmen voller Büros zwischen akribisch restaurierten alten Fabriken, Shopping-Malls und Wohnvierteln. Aus einem 90 Jahre alten, riesigen Getreidesilo wurde ein Veranstaltungszentrum mit Konzertsaal, aus der ehemals von Künstlern und Lebenskünstlern besetzten Tabakfabrik Belle de Mai ein „Ideenlabor“: Hier residieren jetzt Frankreichs zweitgrößte Filmstudios, Internetfirmen und alles was in Zukunft sonst noch mit Kreativität Geld verdienen soll. Am ehemaligen Industriehafen baut der Staat zwei neue Museen von selbstverständlich nationaler Bedeutung. Die alten Docks haben die Stadtsanierer entkernt und zu teuren Büros umgebaut. In den Innenhöfen haben sich cool designte Boutique-Restaurants mit leichter teurer Küche niedergelassen. Aus den rohen Ziegelfassaden ragen die Eisenträger der einstigen Lastkräne hervor.

Gemütlich ist es vor den glatten Fassaden der ehemaligen Lagerhäusern zwischen all den wichtigen Business People nicht: La Défense in Paris, Berlins Neue Mitte oder die Parkstadt in München-Schwabing – Europas Moderne fühlt sich überall fast gleich an.

Doch Marseille bleibt widerspenstig. Schon im 17. Jahrhundert ließ Frankreichs König die Festungen vor dem Hafen mit zwei Reihen Kanonen ausstatten. Eine Reihe richteten sich aufs Meer, die andere auf die Stadt. Seit die Pariser Revolutionäre um 1800 der Stadt wegen ihrer Unbotmäßigkeit auch noch den Namen aberkannt haben, nennt sich Marseille „Rebellenstadt“. „Die Marseiller“, sagt Pierre Crava, „wollen immer anders sein und sind erst mal dagegen“. Die Händler und Kaufleute rund um den Cours Julien haben den Besitzer des OOGI, einem Designerladen mit ausgefallenen Klamotten, Acessoires, Venily-Schallplatten, CDs und Café zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Pierre Crava, dem Mittvierziger zwischen Szene und Geschäft,  ist der Marseiller Widerstandsgeist „oft zu wenig konstruktiv“. Seit 20 Jahren rede man vom großen Potenzial, das die Stadt habe, aber passiert sei in der ganzen Zeit nicht viel. Die Mieten in der Innenstadt hätten vor ein paar Jahren ihren Höchststand erreicht. Der ganze Stadtumbau betreffe das Viertel um den Cours Julien nicht. „Marseille, sagt sein Fast-Nachbar von WAAW, „ist eine ganz erstaunliche Stadt. Nur wissen es viele nicht.“

 

Disclaimer: Ich danke Atout France und der Region PACA für die freundliche Unterstützung der Recherche vor Ort. Auf den Inhalt wurde kein Einfluss genommen.

Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

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