Zuletzt aktualisiert am 18. Februar 2018 um 18:15
meine Radioreportage aus und über Donostia / San Sebastian…
… in der langen Fassung (8:40) für den „Sonntagsspaziergang“ des Deutschlandfunks:
… und in der kurzen für NDR Kultur:

San Sebastian / Donostia. Europas Kulturhauptstadt 2016 lebt im Rhythmus des Ozeans. Auf einer Halbinsel kuschelt sich die Altstadt zwischen weiten Buchten an einen bewaldeten Hügel. Nach Westen säumt eine Uferpromenade mit Prachtbauten der vorletzten Jahrhundertwende den feinen Sandstrand. Eine unbewohnte Insel schützt sie vor den Launen des Atlantiks. Künstler malen Donostia im Blau des Wassers, dem Grün der Berge und dem blaugrau des Himmels. Reisst der auf, flutet die Sonne Spaniens teuerstes Seebad mit klarem, goldenem Licht.
Der Ozean als Künstler
Die blaugrünen Wellen donnern gegen die Felsen. Aus dem Boden schießen heulend Gischtfontänen. Zuschauer des Spektakels nähern sich vorsichtig der Mauer, die sie vom tosenden Ozean trennt. Kommt eine große Welle springen sie zurück.

El Peine del Viento, der Kamm des Windes, hat der Bildhauer Eduardo Chillida seine poetische Installation an der Westspitze der Bucht von San Sebastian genannt. Verschlungene Stahlfiguren klammern sich an die Felsen. Das Meer ist Teil des Werks.
Ana Gabriela hat mich an diesen magischen Platz gebracht. Sie ist in Brasilien aufgewachsen, hat in Italien und in Kalifornien gelebt. Geblieben ist sie in San Sebastián. Die junge Frau Anfang 30 schwärmt von der Lebensqualität ihrer Wahlheimat: entspannte Menschen in einer kleinen Grosstadt mit 186.000 Einwohnern, reichlich Kunst und Kultur. Wir radeln vom Windkamm am goldgelben Sandstrand entlang zurück Richtung Univiertel. In den 80er Jahren bekam das Baskenland nach Jahrzehnten der Unterdrückung eine eigene Universität. San Sebastián heißt nun auch offiziell Donostia. Die Leute sprechen wieder ihre Sprache: Das mit keinem europäischen Idiom verwandte, uralte Euskara, Baskisch.
Ein großer Tunnel nur für Radler
„Die Stadt möchte“, sagt Gabriela, „dass die Menschen aufs Fahrrad umsteigen“. Kreuz und quer verbinden Radwege die Quartiere. An vielen Stellen sind sie zu schmal, manchmal unübersichtlich, doch stets von den Autofahrern getrennt. Die warten geduldig, bevor sie die Wege überqueren.

Vom Eisenbahntunnel, der das Uni-Viertel mit dem Stadtteil Amara verbindet, haben die Stadtplaner ein Stück abgetrennt. Statt über einen hohen Berg rollen wir vorm launischen Wetter geschützt nach Osten. Zwei Spuren bieten Platz für Radler und Fussgänger in beide Richtungen. Die weiße Kunststoffdecke des rund zwei Kilometer langen Bauwerks reflektiert das Licht der Lampen.

Am anderen Ende erreichen wir Amara, die zweite und dritte Stadterweiterung, die sich das reich und mondän gewordene Seebad am Atlantik vor 100 Jahren gönnte. Von alten Bäumen gesäumte Alleen mit schattigen Promenaden begleiten prächtige Jugendstilfassaden des spanischen Modernismo. Über Hauseingängen wachen steinerne Fabelwesen, als wollten sie aller Welt beweisen, dass aus dem Fischernest das Feriendomizil der Herrschenden geworden ist. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Spaniens Königsfamilie auf einem Hügel über dem Strand ihre Sommerresidenz Miramar errichten lassen. Den Herrschern folgten der Adel und der Geldadel. Um die Jahrhundertwende baute man Casinos, Cafés, Restaurants und die von geschwungenen, weiß lackierten Geländern gesäumte Seepromenade. Abends tauchen verschnörkelte Laternen das Ufer in goldgelbes Licht.
Die Legende von Gilda
Gabriela kennt die Abkürzungen, über die wir zu Blas Anchón an der Straße der Katholischen Könige gelangen. Seine schummrige Kneipe an der autofreien Flaniermeile hat sich seit ihrer Gründung 1942 kaum verändert. Über Tischen und Stühlen aus dunklem Holz hängen an der Decke Dutzende spanische Schinken. „J5, beste Qualität“, verspricht der Wirt, während er mir meinen Cortádo, einen kleinen Milchkaffee, auf den abgewetzten, dunkelbraunen Holztresen stellt.

„Scharf, grün und ein bisschen pikant“
Blas, ein kräftiger, wohlgenährter Bärtiger im Pensionsalter erzählt die Legende, die hier ihren Anfang nahm: Kurz nach dem Bürgerkrieg (1936-39) war das Essen knapp. Die Hungrigen kamen auf ein Glas Wein in die Kneipe. Der Wirt servierte Kleinigkeiten, die so genannten Banderillas: Oliven, milden Pepperoni und Sardellen. Dann kam ein Gast 1946 auf die Idee je ein Fischlein, eine Paprikaschote und eine Olive mit einem Zahnstocher aufzuspießen. Gemeinsam gegessen entwickeln die unscheinbaren Häppchen einen eigenen salzig-pikanten Geschmack. Aus Hollywood kam in jenem Jahr der Film Gilda mit der jungen Rita Hayworth in der Hauptrolle nach Europa. Diktator Franco setzte das für damalige Verhältnisse freizügige Werk auf den Index. Die Basken schauten sich das frivole Stück im 18 Kilometer nahen Frankreich an. Die Hauptdarstellerin gab der Küchenkreation ihren Namen:

„Scharf, grün und ein bisschen pikant“, erklärt Wirt Blas und grinst ein wenig verlegen. Inzwischen gibt es die Gilda in fast jeder Bar. Nach einer Kostprobe verabschiedet sich Gabriela. Sie hat ihre nächste Gruppen-Radtour. Mich zieht es ans Meer.
Am Boulevard, der seit dem Abriss der Stadtmauer die Alt- von der Neustadt trennt, bringe ich Vermieter Fernando sein Rad zurück. Über den Fluss gehe ich nach Gros, den bei jungen Nachtschwärmern angesagten Stadtteil hinter dem Kursaal. Die vom Architekten José Rafael Moneo Vallés entworfene Stadthalle aus drei mächtigen Glaswürfeln trägt den Namen des einstigen Kurhauses, das man in den 70er Jahren abgerissen hat.
Traumstrand mit Stadt
An der Avenida Zurriola folge ich den schwarzen Gestalten, die mit bunten Brettern unter dem Arm an der Ampel warten. Tropfnass überqueren sie die Strandpromenade zum Haus Nummer 24. „Pukas“ steht über dem schmalen Laden, eine angesagte Marke für Surfklamotten und eine Schule. Chef Jaime Blazques, ein schlanker Endvierziger, bietet mir eine Probestunde an. Ich folge einem Dutzend 17, 18-jähriger Sprachschüler in den hinteren Teil des tiefen Raums. An mobilen Kleiderständern hängen schwarze Neoprenanzüge. Der Besitzer reicht mir einen davon. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus und quäle mich in das sperrige Ungetüm. Hinter dem Haus holen wir die Surfboards aus einem Lagerraum. Zwei junge Kerle in roten Laibchen mit der Aufschrift „Monitor“ gehen voraus. Am Strand sitzen wir im Kreis, die beiden Trainer, Opa Robert und die Schüler. Gorka, einer der Lehrer zeigt uns im Trockenen, wie man das Brett erklimmt. „Ihr müsst es mit der Spitze gegen die Wellen halten“, schärft er uns ein. Dazu zeichnet er die richtige Position in den goldbraunen Sand.


Wir üben an Land, bäuchlings zu paddeln, um in tieferes Wasser zu gelangen. Zum Lenken fasst man liegend das Board vorne, um es in die gewünschte Richtung zu ziehen. Das funktioniert auch für mich Spitzensportler im Wasser recht gut, nachdem ich die heute anfängerfreundlichen Wellchen problemlos überwunden habe. Paddeln, wenden, zurückpaddeln und zum Schluss versuchen, einen anderen Schüler vom Brett zu schubsen, ohne selbst über Bord zu gehen. Nach einer Stunde stehe ich wieder trocken im Pukas-Laden. Auch Unsportliche können Surfen lernen, meint der Trainer: „Nach fünf Unterrichtsstunden stehen die meisten sicher auf dem Board.“. Der 24jährige bekommt, wie er sagt, für sein Hobby Geld. Statt weiter Architektur zu studieren gibt er Surfunterricht. „Wenn ich für ein Problem keine Lösung finde, schnappe ich mir mein Board und gehen ins Wasser. Dort ist mir bisher immer noch etwas eingefallen.“
Pintxos: Von allen was und alles lecker
Die Antwort auf mein Problem wartet in der Altstadt. In fast jedem zweiten Haus servieren Bars die nach Ansicht der Einheimischen wichtigsten Attraktionen der Stadt: Pintxos, kleine Leckereien, die die Wirte auf ihren Tresen angerichtet haben: Kabeljau-Tortillas, Gemüsespießchen mit Fisch, Brötchen mit Sardinen und feingehacktem Gemüse, Schafskäse mit Tomatenmarmelade oder in Rosenwasser gedünstetem Bacalau. Dazu trinkt man gerne Txakolí (sprich Tschakoli), perlenden, jungen Weißwein, der auf den Bergen rund um San Sebastián gedeiht. Seinen prickeligen Geschmack entfaltet er am besten, wenn ihn der Wirt aus etwa 25 Zentimetern Höhe ins Glas gießt.


Die Altstadtgassen sind für Tische und Stühle draußen zu eng. Damit die Leute im kurzen Sommer an der frischen Luft speisen können, haben die Kneipiers Bretter an die Hauswände montiert. Daran sitzen die Gäste auf Barhockern. Lange halten es die meisten sowieso nicht in einer Bar aus. Man isst ein, zwei oder drei Pintxos und zieht in die nächste Bar, wo das Essen mindestens so lecker schmeckt wie in der vorherigen.

Weil die frische, leichte baskische Küche aus einheimischen Meeresfrüchten, Fisch und Gemüse so viele Touristen begeistert, eröffnen in der Stadt immer mehr Kochschulen. Mal schauen, was ich da noch lernen kann. Im Untergeschoss des 1912 erbauten Luxushotels Maria Cristina bietet Jon Warren Basque Cooking Classes an. Der 35-jährige Engländer hat seinen gut bezahlten Job als Finanzmakler und Vermögensberater in der Londoner City vor acht Jahren gekündigt, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen. Die Leiterin des Kochkurses stellt mir ihren Chef vor. Er sieht eher wie einer der vielen Studenten aus, die für ein paar Auslandssemester in die Stadt kommen. „Ich hatte genug vom Hamsterkäfig im Bankenviertel“, erzählt er mir. Wir setzen uns an einen der Tische im nagelneuen Kochstudio: einen rund 100 Quadratmeter großen Raum mit Profi-Küche und U-förmig darum angeordneten Kochplätzen, auf denen die Kursteilnehmer schälen, schnibbeln und – angeleitet von Profis- Sardellen ausnehmen. Jon stand nach seiner Kündigung vor dem Nichts. Er erinnerte sich an ein feucht-fröhliches Wochenende, das er kurz zuvor mit Freunden in San Sebastián verbracht hatte, packte ein paar Sachen, fuhr ins Baskenland und buchte einen Spanischkurs. In einem Hotel fand er einen Job als Bellboy, eine Art Page. „So habe ich erfahren, was die Gäste vermissen.“ Er eröffnete einen Delikatessenladen mit hiesigen Spezialitäten und dann die Kochschule „San Sebastian Food“. Ein Volltreffer. Die Kurse sind so gut besucht,dass ich nur einen Platz zum Zuschauen bekomme. Zum Schluss verspeisen alle gemeinsam ihre Leckereien an einer festlich gedeckten Tafel. Ich probiere die in reichlich Öl gebratenen Sardellen und den Salat. Vorzüglich. Die baskische Küche verwendet die frischen Produkte der Region, passend zur Saison.

Jon ist der Slowfood-Bewegung beigetreten. Seine Mitarbeiterin Ane leitet die Kochworkshops und hilft den Teilnehmern bei der Arbeit. Sie hat in Frankreich Kulturvermittlung und Tourismus studiert. Die Menschen hier lobt sie als ehrlich und stolz auf Ihre Traditionen. Da habe es kaum jemand nötig, sich wichtig zu machen. Die meisten, sagt sie, seien bescheidene, zurückhaltende Leute. In Jahrhunderten der Unterdrückung sei im Baskenland ein starker Zusammenhalt gewachsen, für den es im baskischen ein eigenes Wort gibt: Auzolan.

Weltoffene Schiffbauer und Seefahrer
Gemeinsam bauten die Basken schon im ausgehenden Mittelalter aus dem Holz ihrer Wälder hochseetüchtige Schiffe. Im 16. Jahrhundert segelten sie damit bis vor die Küste Kanadas, um Wale und Kabeljau zu fangen. Sechs Wochen dauerte die 6000 Kilometer weite Reise vorbei an Island und Grönland. Neun Monate lang waren die Fischer unterwegs: 60 Mann auf 28 Meter langen, sieben Meter breiten Holzschiffen, den Launen des stürmischen Nordatlantiks ausgeliefert. Während Seeleute anderer Nationen reihenweise an Skorbut starben, nutzten die Basken ein Mittel gegen den Vitaminmangel auf See. In Holzfässern nahmen sie pro Fahrt 50.000 Liter heimischen Apfelwein, den Sidra (Cidre) mit. Dank des Alkohols blieb der Saft mit den Vitaminen monatelang genießbar.

Kanadische Archäologen fanden 1978 im zwei Grad kalten Wasser vor Labrador das baskische Walfangschiff San Juan, damals weltweit das am besten erhaltene Wrack aus dem 16. Jahrhundert. Im Fjord von Pasaia, heute der Hafen der Stadt San Sebastián, baut der Verein Albaola die 1565 gesunkene San Juan für vier Millionen Euro eins zu eins nach. Begeistert führt Projektleiter Xabi Besucher durch die Bauhalle. Als Jugendlicher entdeckte er seine Leidenschaft für alte Schiffe. Er fand heraus, dass die einst führende baskische Schiffbaukunst verloren zu gehen drohte. Die letzten Werften im Baskenland kapitulierten vor der billigen Konkurrenz aus Übersee. Xabi ging mangels Alternativen in der Heimat zum Schiffbaustudium in die USA. Wieder zu Hause ließ er sich von den letzten heimischen Experten die Geheimnisse des traditionellen Holz-Bootsbaus zeigen. Ende der 90er Jahre begann er mit dem Aufbau der Werft in Passaia. In einer rund vier Etagen hohen Halle wächst seitdem der Nachbau der San Juan. Ein hölzerner Besuchersteg führt rund um das werdende Schiff. In einem Anbau erzählen Installationen und Modelle die Geschichte der baskischen Seefahrer. Die Besucher können dort ab 2016 selbst Seile herstellen und ellenlange Schiffsnägel schmieden. Mit der fertigen San Juan will Xabi wie einst die Walfänger mit einer Mannschaft nach Kanada segeln. Ziel ist Red Bay, wo die die Vorgängerin vor bald 500 Jahren in einem Sturm sank.
Kunst hilft, die Wunden des Krieges zu heilen
„Die Basken“, sagt die Direktorin des Kulturinstituts Etxepara, „waren immer dem Meer zugewandte weltoffene Seefahrer. Aizpea Goenaga Mendiola ist „im Widerstand gegen Franco“ aufgewachsen. Nachdem der Diktator 1975 gestorben war, kämpfte die ETA für die Unabhängigkeit des Baskenlandes. Fast jeden Tag explodierte in der Region eine Bombe, zunächst vor allem in Polizeistationen, später wahllos auf öffentlichen Plätzen. Der spanische Staat schlug zurück: Terroristen und solche, die die Polizei Guardia Civil dafür hielt, verschwanden in Gefängnissen. Viele wurden gefoltert. Die Fronten trennen bis heute Dörfer, Nachbarschaften und Familien. „Ich hätte auch bei der ETA landen können“, erzählt Aizpea nach kurzem Zögern, „aber zum Glück entdeckte ich rechtzeitig KunstKreativität. Das öffnet Deine Seele.“ Ideen und Gedanken sprudeln schneller aus ihr heraus, als ich sie aufschreiben kann.
„Die Menschen“, sagt sie, „wollen in der globalisierten Welt einzigartig sein. Dazu brauchen sie ihre Identität.“ Kultur könne Heimat geben, ohne andere auszugrenzen. Während sie vom reichen Kulturleben, von den vielen Künstlern und Kulturschaffenden im Land schwärmt, leuchten ihre braunen Augen noch intensiver.
Heimat, die niemanden ausgrenzt
Das Konzept der Wiederbelebung einer aussterbenden Sprache in Schulen, Medien, Kunst und Alltag könne das Baskenland zum Beispiel nach Lateinamerika exportieren. Dort suchten Millionen entrechtete Angehörige indigener Minderheiten nach ihren Wurzeln.
Auch der baskische Friedensprozess könnte eines Tages von Krieg und Terror traumatisierten Ländern als Vorbild dienen. 2011 hat die ETA die Waffen nieder gelegt. An Hauswänden fordern handgemalte Transparente und Graffity die Rückkehr der Gefangenen. Derzeit sitzen die ETA-Häftlinge vor allem in spanischen Gefängnissen anderer Regionen ihre Haftstrafen ab. Der Versöhnungsprozess hat im Baskenland gerade erst begonnen.

Mit Ideen zur Überwindung von Hass und Gewalt hat San Sebastián die Jury für die Auswahl der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 überzeugt. Um mehr darüber zu erfahren verabrede ich mich mit Inesa im Kulturhauptstadtbüro. Sie plant mit einem Kollegen die Projekte zur Versöhnung einst verfeindeter Familien und Nachbarschaften. Geplant sind Podiumsdiskussionen, runde Tische und Workshops nach dem Konzept des „Theaters der Unterdrückten“: Professionelle Schauspieler zeigen Szenen typischer Alltagskonflikte. Danach bekommen die Zuschauer Karten, auf die sie ihre Lösungsvorschläge schreiben. Zusammen spielen die Beteiligten dann diese Ideen durch. „Das Publikum“, sagt Inesa, „wird Teil der Aufführung“. Die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit lösen sich auf. Die Kulturhauptstadt-Projekte zu Frieden und Versöhnung hätten vor allem das Ziel, über die gegensätzlichen Erfahrungen hinweg die Gemeinsamkeiten der Menschen herauszuarbeiten.
Kunst und Musik können dabei helfen. Im Baskischen Kulturinstitut hatte ich Direktorin Aizpea Geonaga nach Künstlern gefragt, die mir von ihrer Arbeit erzählen möchten. Noch am selben Tag meldet sich Harkaitz. Statt in Schulen zu unterrichten, baut der ehemalige Punk-Gitarrist alte wiederentdeckte Instrumente wie das Txalaparta, gibt weltweit damit Konzerte und organisiert Turniere in traditionellen baskischen Sportarten.
Entstanden sind diese aus dem Alltagsleben der Bauern: Die Sportler schlagen um die Wette mit Eisenstangen Löcher in große Steine oder zerhacken Baumstümpfe, auf denen sie stehen, mit einer Axt. Besonders wichtig ist Harkaitz die Txalaparta, ein Holzbrett, das zwei Musiker mit schweren Holzstöcken zum Klingen bringen.„Das funktioniert nur, wenn Du mit dem anderen kommunizierst, ihm zuhörst und dann Deinen Teil einbringst“. Für den 41jährigen bärtigen Lehrer ist die Txalaparta das baskischste aller Instrumente: „Es ist wie ein Tisch, an dem sich Menschen begegnen, um gemeinsam etwas zu erschaffen.“
Das Donostia, das ich mir wünsche

Raum für kreative Begegnungen schafft auch Galeristin Cristina. Begeistert zeigt sie mir die Ziehharmonikabücher, die Künstler und Anwohner im Stadtteil Gros zusammen gestaltet haben. Unter dem Motto „Das Donostia, das ich mir wünsche“ entstanden Collagen, Aquarellbilder, Zeichnungen und Reliefs. Cristina, ungefähr Mitte 50, wollte als junge Frau Künstlerin werden. Doch ihre Eltern überredeten sie zu einer „anständigen“ Berufsausbildung. Sie studierte Journalismus, arbeitete in Redaktionen. Zuletzt war sie Redaktorin bei Radio Vatikan, kam zurück und eröffnete 1996 ihre Galerie ARTEKO. Sie lebt mit und für die Kunst, organisiert Ausstellungen und Malworkshops. Trotz der Wirtschaftskrise, die auch das Baskenland trifft, schafft es Cristina mit ihrer ansteckenden Begeisterung, ihr Werk am Leben zu halten. „Farbe, Inspiration und Poesie“ will sie damit in die Stadt bringen. „Zum Glück“, sagt sie, kommen immer mehr Touristen, denen die Arbeiten gefallen und die etwas kaufen.
Die Stadt und die Liebe
Nach dem Galeriebesuch nimmt sie mich mit in die Kurze Strasse, eine winzige Sackgasse gleich um die Ecke. An deren Ende stehen zwei Tische auf dem Pflaster. Sie gehören zur Bar Te Done, wo sich jeden Mittwoch Abend Künstler treffen. An die fünf sind es diesmal, darunter der in Spanien bekannte Dichter Karmelo C. Ibarren, ein stiller 59jähriger, der die Menschen genau beobachtet. Anregungen für seine lakonisch-überraschenden Gedichte wie „La Ciudad“ (Die Stadt) oder „El Amor“ (Die Liebe) schöpft er aus dem Leben, das an ihm vorbeizieht, wenn er in Bars und Cafés sitzt. Zum Abschied singen mir die am Stammtisch versammelten Dichter, Maler und Musiker ein Lied: »Für einen Freund der geht und wiederkommen soll. » Mein letzter Abend im so entspannenden Donostia endet.

Ich folge der Promenade durch den Park am Fluss, der neben dem Kursaal in den Atlantik mündet. Die Flut drückt ihn landeinwärts. Das Ufer duftet bis hoch in die Neustadt nach Meer und Weite. An der mit steinernen Reiterstatuen und haushohen eisernen Leuchtern verzierten Maria Cristina Brücke steht wie jeden Tag der einsame Jongleur mit den Rastalocken. Müde vom langen Tag lässt er zwei Stäbe umeinander kreisen und zeigt auf das Schälchen zu seinen Füßen. Vom Sehen kennen wir uns inzwischen. Que tal?, wie geht’s, fragt er, schaut mich mit etwas glasigen Augen an. Angekommen fühle ich mich in fremden Städten, wenn mich Menschen auf der Straße wieder erkennen und grüßen. Dafür lasse dem traurigen Artisten meine letzten Münzen.
San Sebastián Donostia Info:
San Sebastian Tourist Info, Boulevard 8, Tel. 943 481116,
hier gibt es ab 8 € (je nach Laufzeit) + 1 € Pfand auch die
San Sebastian Card:
Freie Fahrt in den öffentlichen Verkehrsmitteln, verbilligten Eintritt in Museen sowie Rabatte in einigen Läden und Restaurants
Donostia (der baskische Name der Stadt)/ San Sebastián Europäische Kulturhauptstadt 2016: https://dss2016.eu/en/
Anschauen:
Museen:
In einem ehemaligen Kloster aus dem 16. Jahrhundert und dem hypermodernen Anbau präsentiert das Museum die baskische Geschichte mit überraschenden Einblicken in die Transición, den Übergang Spaniens und des Baskenlandes von der Franco-Diktatur in die Demokratie.
Tabakalera:
Bis Ende 2015 entsteht in der ehemaligen Tabakfabrik am Hauptbahnhof auf 37.000 Quadratmetern eines der größten Kulturzentren Europas mit Mediathek, Museen, Räumen für Kunstworkshops, Künstler- und Gastateliers, Ausstellungsräumen, eigenem Hotel und mehr. C/Duque de Mandas 32,
Interaktives, multimediales naturwissenschaftliches Museum Eureka Paseo de Mikeletegi 43-45,
Galerien:
Charmant, engagiert, bunt und ganz von hier: Arteko, C/ Iparragirre 4 (im angesagten Stadtteil Gros)

Moderne Kunst in der Altstadt, c/ Iñigo 4, www.ekainartelanak.com

Aquarium:
buntes Unterwasser-Leben, Seesterne, die auf Scheiben kleben, schräge Visagen seltsamer Fische und die Geschichte der baskischen Walfänger, Plaza de Carlos Blasco Imaz, 1 (am Hafen) https://aquariumss.com/
Architekturführungen
von Architekten in Bilbao und San Sebastián: www.guiding-architects.net
Stadtführungen von und Begegnungen mit ehrenamtlichen Greetern, die in der Stadt leben:
Wein-, Gastronomie- und Fahrradtouren mit der begeisterten Wahl-Einheimischen Ana Gabriela Serra auf Englisch, Spanisch oder Portugiesisch
Fahrrad (Velo):
In der Stadt vermieten mehrere Geschäfte Fahrräder zu jeweils ähnlichen Preisen
z.B. Sanse Bikes, Boulevard 25 (nahe Rathaus),, 18 € / 24 Std. oder
Bicirent (auch Mopeds und Roller), Ave. de la Zurriola 22 (am Kursaal), Tel. 943.271173 www.bicirentdonosti.esBaskisch:
Rund 60 Prozent der Menschen im Baskenland sprechen im Alltag Baskisch. Forscher suchen immer noch nach der Antwort auf die Frage, woher diese ausgefallene Sprache kommt. Sie ähnelt keiner anderen in Europa. Gesprochen werden die Worte ungefähr so, wie man sie schreibt. Das „x“ steht für den Laut „tsch“.
baskisches Kulturinstitut Etxepare mit Infos zu baskischer Kultur und Sprache:
Mehrere Schulen in der Stadt bieten Baskischkurse an.
Auf Pintxos gehen:
Die Basken sind Genießer und San Sebastian Hauptstadt der Leckereien. Die Region rühmt sich der höchsten Dichte an Sternelokalen weltweit. Eine der der Lieblingsbeschäftigungen von Besuchern und Einheimischen: Ir den Pintxos: Man zieht gemeinsam durch die Bars, trinkt hier und da ein Weinchen (bevorzugt den einheimischen Perlwein Txakolí) und isst dazu die leckeren kleinen Gerichte, die die Barbesitzer auf ihren Theken angerichtet haben. Pintxos heißen diese baskischen Tapas.

Drei Pintxo-Routen führen führen durch Alt- und Neustadt (Plan in der Tourist-Information)
Gastropote:
An fast jedem Tag bieten Wirte in einem Viertel je ein Pintxo mit einem Getränk besonders günstig an, eine Art Happy Hour. Donnerstag ist der Stadtteil Gros zwischen Kursaal und Bahnhof jenseits des Flusses dran.
Die Schlemmerstadt San Sebastian leistet sich auch eine „Kulinarische Universität“ und diverse Kochschulen, die (auch für Besucher auf Englisch) baskische Kochkurse und geführte Pintxo-Touren anbieten:
San Sebastian Food (Kochschule im Untergeschoss des Luxushotels Maria Cristina von 1912)
Follow Me San Sebastian www.followmesansebastian.com
Viele Einheimische haben sich gastronomischen Gesellschaften (Sociedades Gastronomicas) angeschlossen. In kleiner Runde kochen und speisen die Mitglieder gemeinsam oder gehen zusammen in ein Restaurant. Die Mitgliedschaft in einem dieser Clubs soll schon viele Karrieren befördert haben. Auswärtige sind – nur auf Einladung eines Mitglieds – als Gäste willkommen.
Restaurants:
Ein Beispiel von vielen in der Altstadt:
La Fabrica, feine kreative Küche aus frischen heimischen Zutaten, Probiermenü ab 33 € inkl. Wein, Portu Kalea 17 (Altstadt)
Die New York Times hat die C/ 31 Agosto als eine der besten Ausgehadressen weltweit empfohlen. An der unscheinbaren Altstadtgasse (vor dem Museum San Telmo links) reiht sich eine Pintxo-Bar an die andere. Gut sind sie alle, vor allem die erste auf der linken Seite und das La Viña.
Hausgemachte Gerichte aus Bio-Zutaten serviert die Kunst- und Kulturkneipe / Bar Te Done, Corta Kalea (C/Corta) 10,
Jeden Mittwoch um 20 Uhr trifft sich hier ein Künstlerstammtisch. Außerdem gibt es regelmäßig Lesungen, Konzerte und politische Veranstaltungen.
Märkte:
Weniger wegen der Architektur als wegen der erschlagenden Auswahl an frischen einheimischen Lebensmittel lohnt sich ein Besuch auf dem Haupt-Markt La Bretxa am Eingang zur Altstadt. Hier trifft man die Spitzenköche der Stadt beim Einkaufen, wenn sie nicht gerade kochen oder auf dem Sankt Martin Markt (Mercado de San Martín, C/ Urbieta 9, ) unterwegs sind
Webseite für fairen, umwelt- und sozialverträglichen Konsum in San Sebastián mit Veranstaltungskalender: https://saretuz.com/
Internationales in San Sebastián
Sport:
Surfkurse:

Der Stadtstrand Zurriola gleich hinter dem Kursaal hat angeblich die besten Wellen an Spaniens Nordküste. Ausprobieren?
Surfkurse und Ausrüstung haben
Pukas, Ave. de Zurriola 24, und Berabera, Paseo de la Zurriola 2 (Seeseite des Kursaal-Gebäudes),
Übers Wasser laufen (nicht ganz, aber stehend auf einem Surfbrett paddeln fühlt sich so ähnlich an): CD Fortuna, Paseo de La Concha,
und dann entspannen:
Wellness mit Meerblick im Jahrhundertwende-Ambiente
La Perla Talasso, Paseo de la Concha 12,
Veranstaltungen:
20.Jan.: Tamborrada (San Sebastian Tag): großes Trommlerfest zur Erinnerung an die Befreiung von der napoleonischen Besatzung
April: Film-Festival der Menschenrechte
März Theaterfestival dFeria
Ende Mai: Olatu Talka (Wellenbrecher): Kulturfestival mit Nachtmarkt, Konzerten, Lesungen und vielen Projekten aus den Stadtvierteln
Juni: Surf-Film-Festival
Mitte Juli: Jazzfestival am Zurriola Strand
August: Quincena Musical: Festival klassischer Musik
um den 15. Aug. La Semana Grande: Großes Stadtfest mit Konzerten und internationalem Feuerwerks-Wettbewerb
Sept: Internationales Filmfestival
die ersten beiden Wochenenden im Sept: La Bandera de la Concha: Für die sportverrückten Basken der wichtigste Termin im Jahr: Ruderrennen um die begehrteste Trophäe der Stadt mit Festen und Konzerten in der ganzen Stadt. Die Ursprünge gehen auf den Walfang im 15. und 16. Jahrhundert zurück.
Sept: Euskal Jaiak (Baskische Fest) mit baskischem Sport (u.a. Wettsägen und Baumstamm-Hacken) und traditionellen Tänzen
21. Dez: Feira de Santo Tomás: fröhlich-buntes Landwirtschaftsfest
Nachtleben:
Die Leute essen spät (ca. 21-22 Uhr), touren dann durch die Bars und gehen frühestens gegen 1 Uhr 30 in die Clubs.
speziell für junges Publikum am Strand:

Discoteca Bataplan, Paseo de la Concha 10, und La Rotonda, Paseo de la Concha 6, www.rotondadisco.com
Strand:
Mehr als 6 km lang begleitet die Strandpromenade das Meeresufer. Am Weg liegen mitten in der Stadt die hellgelben, feinen Sandstrände La Concha (1,5 km) und der Surfer-Beach Zurriola (ca 1/2 km). In der bucht von la Concha liegt die unewohnte Insel Santa Catarina. Von Juni bis Sept. fahren Ausflugsboote zu dem bewaldeten Eiland mit dem angeblich einzigen Süd-Strand an der baskischen Küste.
Übernachten:
Hotel:
Astoria 7: Modernes, stadtnahes Themen-Hotel das Zimmer und Foyer nach Filmen und Filmstars gestaltet hat, sehr guter, freundlicher Service. Die Zimmer sind für vier Sterne etwas klein, aber sehr freundlich und praktisch eingerichtet, großes Frühstücksbüffet, DZ ab 125 Euro, C/ Sagrada Familia 1, , Tel. 943 445 000

Pensiones con Encanto
3 Pensionen, in der Altstadt und am Kursaal in Gros, Zimmer z.T. mit Meerblick, DZ ab 50 € o.F., Tel 943 327 800
Telefon:
Wer öfter im Land telefoniert sollte sich eine lokale Sim-Karte fürs Handy holen. Die Preise der verschiedenen Anbieter unterscheiden sich erheblich. Laufend kommen neue hinzu. Die Karten gibt es an den Kiosken und in den zahlreichen Handy-Shops. Spanien hat die Vorwahl +34. Die Handynummern beginnen mit 6. Eine 0 vor der Vorwahl gibt es in Spanien nicht.
Ausflüge:

Seinen Hafen hat San Sebastian in den Nachbarort Pasajes (baskisch: Pasaia) verlegt. Die Gemeinde liegt in einem Fjord mit zahlreichen Restaurants und Ausflugslokalen direkt am Wasser.
Die Wiedergeburt eines Schiffes:
In einem Hangar in Pasajes bauen Freiwillige ein 1565 vor Kanada gesunkenes baskisches Schiff originalgetreu aus Holz und selbstgeschmiedeten Nägeln nach. Baskische Walfänger waren mit der San Juan mehrmals 6000 Kilometer weit bis nach Neufundland gesegelt. 2019 soll der Nachbau die gleiche Strecke segeln. Ein kleines Museum erzählt die ganze Geschichte. Nicht verpassen!, Albaola Ondartxo Ibilbidea 1, Pasai San Pedro,
Vor allem am Wochenende kommen zahlreiche Einheimische und Touristen in den kleinen Hafenort Getaria mit seinen bekannten Restaurants wie dem Sternelokal El Kano , benannt nach einem Seefahrer aus dem Ort. Etwas außerhalb liegt das Cristobal Balenciaga Museum, das die Geschichte des international bekannten Modedesigners erzählt.
Auf dem Weg nach Getaria liegt der bei Surfern beliebte Strand des Bade- und Ausflugsorts Zarautz.
Lesen:
Kunst- und Kulturmagazin für die Region mit Veranstaltungstipps:
Hören:
Baskische Musik auf traditionellen Instrumenten modern interpretiert: txalapart.com
Die Recherche-Reise wurde unterstützt vom spanischen Fremdenverkehrsamt tourspain
2 Antworten auf „Donostia / San Sebastián: Zwei Berge, eine Insel und das Meer “
***** wieder echt gelungen! Super viel Information mit so viel Liebe zum Leben!
Su.
Hi.
Toller Beitrag.
Soweit ich weiß ist baskisch die älteste Sprache Europas.
JG,
-Alex