Zuletzt aktualisiert am 13. August 2017 um 18:09
Das im Krieg fast komplett zerstörte Breslau hat sich zur jungen, lebensfrohen Kulturmetropole gewandelt. 2016 war das polnische Wroclaw Europäische Kulturhauptstadt
Von Robert B. Fishman
Breslau/Wroclaw. Polens mit 680.000 Einwohnern viertgrößte Stadt, entdeckt ihr deutsches und jüdisches Erbe wieder. Die von Max Berg 1913 erbaute Jahrhunderthalle ist renoviert. Als Kulturhauptstadt -Projekt entsteht derzeit WuWa 2, der Nachfolger der legendären Wohn- und Werkraumausstellung WuWa von 1929. Damals bauten schlesische Architekten Ikonen der heute klassischen Moderne wie das ehemalige „Ledigenheim“, das die Polen wie andere WuWa-Bauten restaurieren. Während sich in der wieder aufgebauten Altstadt die Touristen tummeln, eröffnen junge Kreative in vergessen geglaubten Altbauquartieren wie Nadodrze laufend neue Galerien, Designerläden und ausgefallene Cafés. Das neue junge Breslau bevölkern mehr als 100.000 Studenten aus ganz Europa und mehr als 300 Zwerge.
Schichten der Geschichte
„Noch nirgends habe ich so viele Schichten der Vergangenheit ineinander verwoben gesehen“, staunt die Fotografin Verena Blok. Als Gastkünstlerin der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 lebt die 25jährige für ein paar Monate in Breslau.
„Zeitschichten“ nennt sie den Kontrast der vielen Architekturstile in Wroclaw: Hier ein klassisch-moderner Bau aus den 1920ern wie das Sparkassengebäude am Salzmarkt, daneben detailgetreu restaurierte österreich-habsburgische Bürgerhäuser. Stadtteile wie Nadodrze oder das so genannte Bermudadreieck an der Straße der Pariser Kommune erscheinen mir wie vor 50 oder 60 Jahren schockgefroren. Seit dem Ende des Sozialismus tauen die grauen Viertel mit ihren fünf- und sechsstöckigen preußischen Mietskasernen der Gründerzeit wieder auf.
1945 lag Breslau in Trümmern. Die Nazi-Verbrecher hatten Deutschlands drittgrößte Stadt zur „Festung“ erklärt. Die Bewohner sollten sterben, statt sich der heranrückenden Roten Armee zu ergeben. Jenseits der Grunwaldzki-Brücke rissen die brauen Machthaber kurz vor Kriegsende ganze Straßenzüge ab, um eine Landebahn für Flugzeuge zu bauen. So setzte sich der Gauleiter der Region beim Anmarsch der Sowjets ab.
Breslauer Wirtschaftswunder
Nach dem Krieg mussten die Deutschen Schlesien verlassen. In ihre Häuser zogen Flüchtlinge aus der heutigen Westukraine. Die Alliierten hatten die „Westverschiebung“ Polens beschlossen. 1939 zählte Breslau 850.000 Einwohner. Keine andere Stadt dieser Größe hat im 20. Jahrhundert den kompletten Austausch seiner Bevölkerung erlebt.
Oberbürgermeister Rafal Dutkiewicz regiert die rund 680.000 Worclawer seit 13 Jahren. Gerne erzählt er vom Breslauer Wirtschaftswunder: Viele internationale Unternehmen haben sich angesiedelt – auch wegen der Nähe zu Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist nach offiziellen Angaben auf unter vier Prozent gesunken. Dutkiewicz, Jahrgang 1959, studierte Mathematik und Philosophie, ging in die Wirtschaft, wurde Headhunter, schließlich Politiker.
Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus mit seinen Straßencafés und Restaurants plätschert ein moderner Brunnen. Ein junger Mann zaubert mit einem Seil an zwei Stöcken Seifenblasen in den blauen Himmel, manche groß wie ein Auto. Kinder springen jauchzend in die glitzernd durch die Luft wabernden Ballons. Die Klänge eines Liedermachers mischen sich mit den Pop-Songs einer Band auf der anderen Seite des Platzes. Die vielen Cafés wie das PRL, einst die offizielle Abkürzung der polnischen Volksrepublik, sind gut besucht. Die Ostalgie-Welle hat Breslau erfasst. Die Kellnerinnen bedienen in einer Art Pionieruniform mit rotem Tuch um den Hals. Drinnen hängen Bilder von Stalin, den Führern des sozialistischen Polens und Propagandaplakate. Der untergegangene real existierende Sozialismus ist zur Touristenattraktion geworden.
Nadodrze: Vom Ruinenviertel zum Hipster-Kiez
Breslaus Zukunft beginnt im Stadtteil Nadodrze hinter der Uni. Konrad, Hipster-Bart und nach hinten gegelte Haare, sitzt auf einem Stapel
Holzbretter neben einem ausrangierten Fernseher im Hinterhof eines unsanierten Altbaus aus preußischer Zeit. Der 28jährige nennt sich Marketing-Manager des Start-Up-Unternehmens Panato. Seine Kolleginnen und Kollegen entwerfen drinnen vor Computerbildschirmen Designs für Taschen, Beutel und andere stabile Modeaccessoires für den Alltag. Das Leben vor der Haustür liefert ihnen die Ideen. „Wenn Du mit über die holprigen, löchrigen Pisten radelst, brauchst Du Taschen aus festem Material“, erklärt Konrad. Die Räume teilt sich Panato mit dem gleichnamigen Café, in dem die Gäste für die Zeit bezahlen, die sie dort verbringen. Umgerechnet 2 Euro 88 kostet die Stunde inklusive Kaffee, Kuchen oder Suppe.
Bevor der Wandel begann galt Nadodrze als gefährliches Glasscherbenviertel, »wo die Zigeuner wohnten«. Nach Vertreibung und Flucht der Deutschen kamen die Umsiedler aus der heutigen Ukraine am hiesigen Bahnhof an. Anders als in der Innenstadt waren die meisten Häuser hier nach dem Krieg noch bewohnbar. Die Neuankömmlinge zogen ein. Die nun polnische Stadt Wroclaw richtete ihre ersten Ämter ein: Polizei, Post, Meldeamt. Die Übersiedler eröffneten kleine Werkstätten, von denen viele die Zeitenwenden überlebt haben. Neuerdings ziehen immer mehr Studenten der nahen Universität in die günstigen Wohnungen des Viertels. Künstler und junge Unternehmer gründen Cafés, Galerien und Läden wie das Panato mit seinen Design-Produkten.
Haus des Friedens
„Marketing-Manager“ Konrad liebt das Quartier mit den alten Gebäuden, versteckten Hinterhöfen und „den vielen coolen Leuten“. Auf den Straßen liegt das deutsche Kopfsteinpflaster der vorletzten Jahrhundertwende. Seitdem ergrauen die bröckelnden Fassaden der vier- und fünfstöckigen Mietshäuser. An einem Platz überdauert ein kreisrunder Weltkriegs-Hochbunker nutzlos die Zeiten. Graffity-Künstler haben einige der vielen Hinterhof-Einfahrten mit mehrere Quadratmeter großen, leuchtend-bunten Wandbildern dekoriert.
Im Info-Büro, das die Stadt für Anwohner und Besucher Nadodrzes in der Erdgeschosswohnung eines Altbaus eingerichtet hat, trinkt Edward Skubisz an einem der rohen Holztische seinen Kaffee. Der 65jährige ist in Holland aufgewachsen. Sein Vater war im Krieg Soldat der Polnischen Heimatarmee. Auf Seiten der Briten kämpfte er gegen die Nazi-Besatzung und blieb nach 1945 in Breda. Erfahrungen, die Edward prägten. Er gründete die Stiftung Dom Pokoju, Haus des Friedens, die in Polen, den Niederlanden und Deutschland Versöhnungsprojekte fördert. Die Stiftung hat zwei Tagebücher von Holocaustüberlebenden herausgegeben und organisiert Bildungsprogramme an Schulen. In Nadodrze richtet sie zusammen mit Senioren aus dem Viertel ein Nachbarschaftsmuseum ein.
Quartier der Toleranz
Auch Edward lobt seine Wahlheimat. Die Stadt kümmere sich um die große Kultur wie um die kleine in den Vierteln. Überall sehe man in Wroclaw die Spuren der österreichischen, deutschen und der polnischen Geschichte. Inzwischen haben die Nationalitäten und Religionen haben ihren Frieden miteinander gefunden.
Am Südrand der Altstadt hat die Toleranz ein eigenes Quartier. Das ehemalige jüdische Areal hat die Stadt zum „Viertel des gegenseitigen Respekts“ erklärt. Rund um die frisch restaurierte Synagoge zum Weißen Storch beten Juden, Christen aller Richtungen und Muslime gemeinsam. Dazwischen haben sich ein Fahrradvermieter mit Café, Kneipen und Clubs angesiedelt. Breslau ist auf einem guten Weg.
Breslau Info:
Polnisches Fremdenverkehrsamt, Hohenzollerdamm 151
14199 Berlin, Tel.: +49 (0) 30 210092-0
Touristinfo Breslau: Rynek 14, https://www.wroclaw.pl/de/touristeninformation
Europäische Kulturhauptstadt 2016 (Englisch)
Stadtführungen zu verschiedenen Themen gegen Spende/Trinkgeld auf Englisch und Deutsch: https://freewalkingtour.com/wroclaw/
Kultur:
Neues Musikforum: Das 2015 eröffnete hypermoderne Kulturzentrum bietet mehrere Konzertsäle mit Top-Akustik:
Museum für Moderne Kunst in einem Weltkriegsbunker
renovierte Bar, in der sich in den 60er Jahren die Oppositionskünstlergruppe „orangene Alternative“ traf. Nach 20 Jahren Leerstand
zog hier der Infopoint der Eur. Kulturhauptstadt ein. Es gibt kleine Gerichte, Kaffee, Kuchen. Jeden Dienstag treten Künstler aus der Region auf der offenen Bühne auf. Am Wochenende stehen u.a. Performances, Konzerte, Lesungen auf dem Programm. Ul. Swidnicka 8c Ecke Kazimierza Wielkiego,
Stadt der Zwerge
Einer sitz hinter Gittern, ein anderer hängt an einer Straßenlaterne ein Dritter bewacht den Zugang zur Unterwelt. Mehr als 100 Zwerge verstecken sich auf Gassen und Plätzen der Stadt. Die rund 30 Zentimeter kleinen Bronzefiguren erinnern an die jungen Leute, die in den 80er Jahren mit anarchischen Protestaktionen die Staatsmacht provozierten. Als Gnome verkleidet demonstrierten sie gegen das Regime: „Zwerg in Breslau verhaftet“, vermeldete damals eine Zeitung. Inzwischen haben es die Wichte zum Wahrzeichen Wroclaws geschafft. Damit sie nicht geklaut werden sind sie mit dem Boden verschweisst und angeblich mit GPS-Sendern ausgestattet. Die Tourist-Information und der Veranstalter Free Tours bieten Zwergenführungen an.
Ausblick:
Von der Terrasse im 6. Stock des 1892 erbauten Luxushotels Metropol bietet sich ein wunderbarer Ausblick über die Innenstadt mit dem Forum Neue Musik.
Wer noch höher hinaus will, fährt (mit dem Lift) auf den Turm des Doms oder klettert (nur zu Fuß) die mehr als 300 Stufen der engen Wendeltreppe auf den Turm der Sankt Elisabeth Kirche hinter dem Marktplatz.
Bente Kahan Stiftung: Kultur in der Synagoge zum Weissen Storch
Architektur:
1911-13 ließ Stadtarchitekt Max Berg die damals weltgrößte freitragende Betonhalle errichten. Inzwischen zählt sie zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Vier-Kuppel-Pavillon und die Pergola nebenan tragen die Handschrift von Hans Poelzig. Er war damals Direktor der Breslauer Kunstgewerbeschule und gilt als einer der Wegbereiter des modernen Bauens im frühen 20. Jahrhundert. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehört das Berliner Haus des Rundfunks.
Stadtteile:
Infopunkt Nadodrze, ul. Lokietka 5, dort gibt es kostenlos einen sehr übersichtlichen Stadtplan des Viertels mit interessanten Adressen https://pik.wroclaw.pl/okietka-5-Infopunkt-Nadodrze-m376.html
Panato-Cafe: Die Gästezahlen hier die Zeit, die sie dort verbringen. Die Stunde kostet 12 Zloty und 19 Groschen, Essen und Getränke inklusive, https://panato.org/
Veranstaltungen:
April: Amateurfilmfestival KANN
Mai:
1. Mai 2016: Tausende Gitarristen spielen zusammen Jimmy Hendrix Stücke, um damit ins Guinessbuch der Rekorde zu kommen
jüdisches Kulturfestival Simcha
Juli: Filmfestival Neue Horizonte, 2016 mit Verleihung des Europäischen Filmpreises
Juli/Aug.:
Singing Europe Raggae Festival
Sept.:
Internationales Gesangs- Chor- und Klassikfestival Wratislavia Cantans
Nov.
Ein-Mann-Theater-Festival „Wrostja“
Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt vom polnischen Fremdenverkehrsamt