Zuletzt aktualisiert am 14. März 2020 um 12:04
Rotterdam. Hollands Schmuddelkind hat sich herausgeputzt. Wo einst Seeleute in Hafenspelunken ihre Heuer versoffen, wachsen bis zu 50 Stockwerke hohe Wohntürme in den Himmel. Europas größter Hafen zieht immer weiter die Neue Maas hinunter Richtung Meer. Auf den frei gewordenen Grundstücken toben sich berühmte Architekten und kreative Unternehmensgründer*innen aus. Einer macht aus Dreck Schmuck, andere verwandeln ausrangierte Windräder in Spielplätze, Chemiecontainer in Toiletten oder Rotterdamer Eigenheiten in Kunstwerke.
Beitrag vom Sommer 2016, Update 14.3.2020
„Groos“ (sprich chroos) sagten sie in Holland früher für Stolz. Eine Hand voll Künstler und Designer haben das Wort wiederentdeckt. Jetzt heißt ihr Laden so. Dort verkaufen sie gemeinsam ihre Werke: Sofakissen zum Beispiel, die eine der Künstlerinnen mit alten Leuten strickt, damit die sich nicht so alleine fühlen, Kinderkleidung, oder notizbuchkleine Kräutergärten fürs Fenstersims. Socken gibt es mit Rotterdamer Motiven darauf, Designerstühle, und aus Hartpappe gefertigte Landschaftsteile für Lego- und Duplosteine – einzige Gemeinsamkeit der rund 200 verschiedenen Produkte: „made in Rotterdam“. (Update Febr. 2020: Den Groos-Laden gibt es leider nicht mehr, alle anderen hier genannten Projekte, Läden etc. sind noch da.)
Eva, Sprecherin der Künstler, Designer und Verkäufer im Groos, studiert kreatives Schreiben an der Uni in Arnheim. Wohnen will sie in Rotterdam. „Wir unterstützen uns gegenseitig, arbeiten zusammen und sehen die anderen nicht als Konkurrenz“, beschreibt sie den Rotterdamer „Spirit“ im Groos.
Gleich um die Ecke führt eine 350 Meter lange Brücke ins regengraue Nirgendwo. Luchtsingel heißt das aus leuchtend gelben Brettern gezimmerte Werk, das über einen stillgelegten Bahnhof führt. Stolz ist Rotterdam auf die Brücke, weil die Bürgerinnen und Bürger der Stadt sie selbst bezahlt haben – via Crowdfunding. Eine Initiative hat die Kampagne im Internet gestartet. Für 25 Euro kaufen die Spender und Spenderinnen ein Brett mit ihrem Namen darauf. Rund 7’000 sind es insgesamt.
Der Luchtsingel führt über einen Gemeinschaftsgarten, in dem Anwohner Gemüse anbauen, einen Park mit in den Boden eingelassenem Trampolin zu einem Platz mit Kneipen und Bars, auf dem die Leute im Sommer draußen feiern. In die Bögen unter der

Bahnlinie sind Cafés, Restaurants und die Läden Rotterdamer Designer eingezogen. Auf der anderen Seite der Brücke hat die Stadt mal wieder aus der Not eine Tugend gemacht. Weil das Wasser vom Himmel zu wenig Abflussmöglichkeiten findet brauchte man ein Regenrückhaltebecken. Statt wie andernorts dafür eine Freifläche zuzubauen oder einen Park zu zerstören, betonierte man einen Sportplatz in die Stadtlandschaft, der die Wassermassen aufnehmen kan. Sind die nach dem Regenguss abgeflossen, spielen die Kinder der benachbarten Schule darauf wieder Fuss- oder Basketball.
„Gott hat die Welt erschaffen und wir die Niederlande“
Gerne erzählt Eric die Geschichten von pragmatischen Rotterdamern, die für scheinbar komplizierte Probleme einfache Lösungen finden. 2008 hat der heute 38jährige sein Architekturstudium abgeschlossen. Damals wurde überall in der Stadt gebaut. Doch dann kam die Krise. „Die Hälfte meiner Studienkollegen ist ausgewandert, weil sie keinen Job fanden“, erinnert sich Eric an den Schock nach seiner Ausbildung. Eric blieb und schloss sich dem OMI an, dem Office for Metropolitan Information, das Architektur- und musikalisch untermauerte Baustellenführungen in Rotterdam anbietet. Lange halte man einen Job in einem Architekturbüro ohnehin nicht aus, tröstet er sich. Ein Freund von ihm habe eine Stelle im Büro des Stararchitekten Rem Koolhaas ergattert. „Der hat zuhause seinen Kühlschrank ausgesteckt, weil er die ganze Zeit nur arbeitet.“
Der Bauboom in den 90er und 2000er Jahren hat die Stadt verändert. Aus der anrüchigen Hafenstadt mit vielen sozialen Problemen und hoher Kriminalität wurde ein Labor der Postmoderne: Wolkenkratzer, neue Stadtviertel und Ideen für das Wohnen der Zukunft.

„Das Schöne an dieser Stadt ist, dass sie nicht so holländisch ist“, scherzt Simone. Statt Windmühlen sehe ich Wolkenkratzer, Würfelbauten aus der Nachkriegszeit statt Altstadt mit Grachten, einen Manhatten-Tower am nagelneuen Hauptbahnhof mit seiner mattgrau verkleideten Dreiecksfassade.

Simone habe ich im Netz gefunden, genauer gesagt ihren Blog „nach Holland“. On- und offline gibt sie Hollandreisenden Tipps und berät Deutsche, die in die Niederlande ziehen wollen. Wir treffen uns im Ro-Town, einer neumodischen Abkürzung für Rotterdam. Die Kneipe – viel dunkles Holz, selbstgebrautes Bier, junge Leute – liegt einen Steinwurf vom ehemaligen Drogenstrich, der heute beliebten Ausgehmeile Witte de Withstraat mit ihren Restaurants und Bars.
Architektin Simone und ihr Freund sind vor 16 Jahren wegen des Jobs hierher gezogen. Damals hatte der Wandel begonnen. Das raue, hässliche Entlein im Schatten der Grachten-Puppenstube Amsterdam (mit der sich die Rotterdamer in einer Mischung aus Neid und Abscheu ständig vergleichen) fing an, sich schön zu machen.
Bauklötze staunen
Man brauchte Architekten und Ingenieure, die an den kühnen Träumen von Hollands ewig Zweiter mitbauen wollten: Eine Drahtseil-Brücke über die Neue Maas zu Füßen des höchsten Wohnturms landesweit – die 44 Etagen hohe „vertikale Stadt“ De Rotterdam von Rem Koolhaas – und andere Luft-Schlösser.
Weitere Pläne warten seit der Lehmann-Pleite 2007/08 auf Geldgeber, zum Beispiel die für Katendrecht. Simone hat mir von der geheimnisvollen Halbinsel erzählt. Bis zum zweiten Weltkrieg war sie Europas größte Chinatown, zuletzt Matrosenviertel und Rotlichtbezirk.
Mit derlei Seemannsgarn im Ohr radle ich auf die 1996 erbaute Erasmusbrücke. „Schwanenhals“ nennen sie das geschwungene Bauwerk wegen der eleganten Form. Im Abendlicht scheint die Brücke an ihren

Stahlseilen über der Neuen Maas zu schweben. Drüben angekommen lege ich den Kopf in den Nacken. Erst nach einer Weile finde ich den Himmel wieder. Die glatten Fassaden der Hochhäuser verschwimmen in den tief hängenden Wolken. Stehen geblieben ist beim Umbau der Halbinsel Kop van Zuid das Hotel New York. In seiner Mischung aus Jugendstil und Art Deco ist es aus der Zeit gefallen. Holland-Amerika Lijn steht in goldener Schrift über dem Eingang. Bis in die 1960er brachen hier Hunderttausende in die Neue Welt auf.

Im Keller haben Barbiere unter einer Stuckdecke ihr Quartier aufgeschlagen. In bald 100 Jahre alten Stühlen verpassen sie ihren Kunden „richtige Männerfrisuren“. Der Andrang ist groß. Manche Besucher verlassen den Salon wie einst Elvis oder James Dean die Bühne.
Hinter dem New York verbindet eine Fußgängerbrücke das futuristische Kop van Zuid mit Katendrecht. Sie mündet auf einen ehemaligen Hafenkai, an dem Rotterdamer Kreative vom verschwindenden Hafen hinterlassenen Fabrikhallen neues Leben einhauchen. Ich folge den farbigen Lichtern, die aus einer der Hallen scheinen. Drinnen sieht es aus wie auf einem Markt. An einem Stand backen junge Leute frisches Brot, an einem anderen holt jemand Pizza aus dem Ofen. Mitten drin verkauft hinter bunten Gewürzhaufen ein Marokkaner mit einem roten Fes auf dem Kopf Leckereien. Auch er verwende „möglichst“ Zutaten aus der Umgebung, zum Beispiel Honig mit Senf. „Sowas haben wir in Marokko nicht“, erklärt der Mann. Sein Lächeln scheint für einen Moment zu gefrieren.
Roh-Terdam
„Rotterdam ist roh, niemals fertig, immer in Bewegung und in ständigem Umbruch“, erzählt mir Paul, der nebenan sein Restaurant Posse eröffnet hat. Er sitzt im karierten Hemd mit seinem Laptop an einem großen unbearbeiteten Holztisch am Rande einer Fabrikhalle. An der Wand hängt ein restauriertes schwarzes Fahrrad. Im Regal stehen alte Keksdosen. Metalllampen spenden gedämpftes Licht. Der bärtige Inhaber mit dem stylischen Kurzhaarschnitt ist Fotograf. Er sammelt klassische Velos, schraubt an einem uralten Minibus, der bald wieder fahren soll, kauft europaweit Fotokunst und serviert Leckereien aus frischen einheimischen Zutaten. Sein Opa war Hafenarbeiter. „Er schleppte für zehn Cent Tageslohn 25 Kilo schwere Säcke auf die Schiffe. Zum Überleben brauchte er Erfindergeist.“ Das, meint Paul, sei typisch Rotterdam. „Wir haben unglaublich viele kreative Leute hier.“ Einige seien nach Amsterdam gegangen, um dort ausgefallene Publikationen zu entwickeln. Andere nutzen die Freiräume, die die Stadt im permanenten Wandel immer wieder schafft.
Schmuck aus Dreck
Fünf Designer gründeten zum Beispiel die Super Use Studios. In einer ehemaligen Fabriketage entwerfen sie aus vermeintlichem Müll neue Produkte. Sie bauen Spielgeräte aus demontierten Windrädern, aus alten Kabelrollen Fassadenverkleidungen, aus Stahlresten die Inneneinrichtung für Büros und Museen oder aus überflüssig gewordenen Flüssigkeitstanks Toilettenhäuschen. Aus Brauereiabfällen wird frisches Brot und demnächst eröffnet Super Use in einem aufgegebenen Hallenbad eine Pilzzucht. Auf einer „Erntekarte“ tragen sie unter www.oogstkaart.nl die Fundstellen für Abfallstoffe ein, aus denen man etwas Neues machen kann. Das Material für die Wirtschaft der Zukunft „ernten“ sie in der Nähe, um lange Transportwege zu vermeiden.
Auf meiner Radtour zur Van Nelle Fabrik, einem Bau aus den späten 1920er Jahren und seit 2015 Weltkulturerbe, komme ich an einem Flachbau vorbei. Im Garten summt ein silbrig glänzender, rund sieben Meter Turm vor sich hin. Durch die Lamellen, die ihn bedecken, bläst er Luft in die Umgebung. Der Smog-Tower gehört dem Künstler und Designer Dan Roosegaarde, der hier sein Studio eingerichtet hat. Mit nachts leuchtenden Wegen und andere Lichtinstallationen hat sich der „Sozialdesigner“ international bekannt gemacht.
Ein junger Mann namens Sebastian öffnet mir die Tür. Nein der Chef sei nicht da, aber etwas könne auch er mir erzählen: „Der Smog-Turm saugt durch das große Loch oben Umgebungsluft an und reinigt sie mittels elektrischer Ladung. Aus den Lamellen auf den Seiten bläst er die saubere Luft in die Umgebung.“ 70 % des Feinstaubs und anderen Dreck filtere die Maschine heraus. Die schwarzen Rückstände pressen die Mitarbeiter zu Klumpen, die sie zu Schmuck verarbeiten. Ein Ring mit einem solchen „Dreckstück“ als Stein kostet 250 Euro. Damit kaufe man 1000 Kubikmeter saubere Luft. „Im Moment“, sagt der Sebastian, „können wir nicht liefern. Wir müssen warten, bis sich wieder genug Stoff in den Filtern angesammelt hat.“ Vorbestellungen nehme er aber gerne an. Den Smogtower will Roosegaarde an Städte verkaufen, die unter Luftverschmutzung leiden. Mit Peking verhandle man bereits.

Der Untergang des alten Rotterdam
Rotterdam ist voller Ideen. Immer wieder hat sich die Hafen und einstige Werften-Metropole aus Krisen herausgearbeitet. Am 14. Mai 1940 bombardierte die Nazi-Luftwaffe das Zentrum. Die Deutschen hatten das Nachbarland überfallen. Die Geschichte dazu finde ich hinter einer Stellwand in einer Ecke der Tourist-Information in der Innenstadt. Auf einem Fernseher laufen in einer Endlosschleife die schwarz-weiß Bilder vom Untergang. Der Film zeigt Menschen, die mit angst- und schmerzverzerrten Gesichtern schreiend aus einstürzenden Gebäuden fliehen. Drei Tage brannte die Stadt. Bilanz: 850 Tote, 25’000 zerstörte Wohnungen, 258 Hektar Altstadt vernichtet. Kanäle und der breite Fluss, die Neue Maas, stoppten die Vernichtung. Brandgrens, Brandgrenze heißt heute noch die scharfe Kante, die den Schnitt zwischen dem alten und dem neuen Rotterdam markiert. An manchen Stellen teilt sie messerscharf einzelne Häuser. Eine Hälfte war abgebrannt, die andere hatte das Feuer überstanden.
Draußen glitzern Lichter auf dem nassen Asphalt. Wenige Menschen eilen mit eingezogenen Köpfen durch den Regen. Aus einem Klamottenladen dudelt Chart-Musik.
„Lijnbaan“ steht in grün-gelber Leuchtschrift über der von eilig hingeworfenen Flachbauten gesäumten Einkaufsmeile. Europas erste Fußgängerzone entstand gleich nach dem Krieg. Kaum war Holland befreit kamen Architekten aus dem ganzen Land, um an der Stadt der Zukunft zu bauen – oder dem, was sie dafür hielten: autogerechte Straßen, Bürohauskästen und Läden. Wohnen sollten die Menschen draußen im Grünen. Noch heute lebt nur etwa jeder zehnte Einwohner im Zentrum.
Das Glashaus im Himmel

Inzwischen hat der Trend zurück in die Stadt auch Rotterdam erfasst. Neue Innenstadt-Wohnungen sind vergeben, bevor die Arbeiter die Baugrube ausgehoben haben. Im Timmerhuis, dem gläsernen Neubau hinter dem Rathaus hat Ossip eine der letzten Wohnungen gekauft. „Vom Plan weg“, wie mir der 34jährige in seinem rundum dreifach-verglasten 100 Quadratmeter-Apartment erzählt. Dank der versetzten Bauweise kann man von überall nach draußen sehen. Es gibt nur eine Innenwand. Ein Haus im Himmel. Zu jeder Einheit gehört eine eigene große Terrasse. Tanks unter dem Gebäude speichern warmes und kaltes Wasser – einer für die Fussbodenheizung, der andere für die Kühlung in den Zimmerdecken. Die Fenster sind mit wärmeabweisendem Material beschichtet, damit es in den Glaskästen nicht zu heiß wird.
Über das OMI, das Office for Metropolitan Information, hatte ich mich zu Ossip durchgefragt. Das OMI bietet Architekturführungen, dokumentiert die Stadtplanung und stellt einige von Ossips Fotos aus. Als Architekt fand er nach Beginn der Krise – wie so viele – keinen Job mehr. Er begann, Rotterdamer Neubauten zu fotografieren. Inzwischen arbeitet er für das Büro des Star-Baumeisters Rem Koolhaas.
Nun wohnt Ossip mit seiner kleinen Familie zwischen City und Wolken im zwölften Stock des frisch eröffneten Timmerhuis. Durch die deckenhohen Fenster schaut er auf die Hochhäuser, die zwischen Kanälen, Hafenbecken und Nachkriegs-Flachbauten in den Rotterdamer Himmel wachsen.
Im Rathaus zu Ossips Füßen arbeitet Bürgermeister Ahmed Aboutaleb. Viele loben den muslimischen Sohn marokkanischer Einwanderer. Auch Leo Vromen, Vorsitzender der orthodoxen jüdischen Gemeinde ist begeistert: „Bei uns fühlt er sich wie zuhause, er ist mein Freund“, schwärmt der 60jährige, der ihn „jederzeit anrufen“ könne. Glaubt man einem deutschen Zeitungsbericht, empfiehlt der Stadt-Chef seinen Mit-Migranten „weniger zu jammern, niederländisch zu lernen und ihre Kinder in die Schule zu schicken“. Wer „die westlichen Werte“ akzeptiere, sei in Rotterdam willkommen.
Als die Holländer im Wirtschaftsaufschwung Arbeitskräfte brauchten, holten sie sich „Gastarbeiter“ aus Marokko, der Türkei und anderen Ländern. Dazu kamen Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien in Indonesien und der Karibik. Auf der Straße, in der U-Bahn, hinter den Tresen ihrer Imbissbuden mit Aufschriften wie „Surinaamse Eethuis“ (surinamisches Lokal)- überall sieht man die dunkelhäutigen Gesichter aus Südostasien und den Antillen.
„Hier hörst Du alle Sprachen“, freut sich Architektin und Holland-Erklärerin Simone. Rotterdam sei schon dank des Hafens immer eine Stadt des Kommens und Gehens gewesen. Viele ziehen her, bleiben ein paar Jahre und verschwinden wieder. Menschen aus 170 Nationen bringen ihre Ideen und Kulturen mit. „Die bunten tropischen Läden sind für Simone „wie Urlaub zuhause.“
So genannte soziale Brennpunkte gibt es weiter draußen. Anneke von den Guiding Architects führt vor allem Fachkollegen durch niederländische Städte. Wir gehen zur neuen Markthalle, zu den Würfelwohnungen von Piet Blom und in Hinterhöfe, in die sich sonst kaum ein Fremder verirrt.
Bastelhäuser
Rotterdam hatte jahrelang viel Leerstand. Unbewohnte Häuser verkauft man billig an Investoren. Die müssen dort mindestens drei Jahre wohnen und das Gebäude sanieren. Klushuizen, Bastelhäuser heißt das Konzept, das den Niedergang „schwieriger“ Stadtteile aufhalten soll. Alternative: Anti Kraak Wonen. Damit in leerstehende Wohnungen keine Hausbesetzer einziehen, vermieten Agenturen die Räume weit unter Marktpreis zur Zwischennutzung. Will der Eigentümer verkaufen oder umbauen, müssen die Mieter raus.
Pragmatisch seien die Rotterdamer, nüchtern, direkt und zupackend, höre ich häufig. „Du willst ein altes englisches Feuerschiff in den Hafen legen und darauf Parties feiern? Mach es“, fasst der Kellner des V11 die Einstellung der Stadtverwalter zusammen.
Das knallrote eiserne Schiff liegt im Leuvehaven, einem der vielen innerstädtischen Hafenbecken, zwischen Hausbooten, kleinen Yachten und schwimmenden Hostels. Ein paar Enthusiasten haben es vor Jahren in England gekauft, nach Rotterdam gebracht und zum Pub umgebaut. Unter Deck gibt es eine Theke, Sitzbänke, Sessel und eine Tanzfläche.
Fahrende Badewanne

Neben dem V11 dümpelt eine seltsame runde Schüssel. Das Ding sieht aus wie ein zu groß geratener Whirlpool. „Das ist unser Hot Tug“ erklärt mir der Kellner. „Wir füllen es mit warmem Wasser, heizen den Ofen an und vermieten es an Gruppen.“ Die kurven damit im warmen Wasser sitzend herum. Angetrieben wird die schwimmende Badewanne mit einem Elektromotor.
„So lange sich niemand beschwert, kannst Du hier fast alles machen“, hatte mir Architektin und Tourguide Anneke erzählt. Sie zeigt mir Häuser, die in Deutschland oder der Schweiz keine Genehmigung bekämen. Ein Bauherr hat ein fünf Meter schmales Häuschen auf Stelzen über einen Parkplatz gesetzt. Ein anderer wohnt in einem Kasten, der auf Stahlträgern zwei Bürogebäude verbindet. Ein Dritter, der ein Grundstück suchte, baute sein glasglitzerndes Hochhaus auf ein eigentlich zum Abbruch vorgesehenes Kaufhaus von 1948.
Was nicht passt, wird passend gemacht. Der Reiseführer Lonely Planet zählt Rotterdam neuerdings zu den zehn sehenswertesten Orten der Welt. Der Kellner auf dem V11 Feuerschiff freut sich über das neue Image. Touristen bringen Geld und wir sind stolz darauf, ihnen unsere Stadt zu präsentieren.
Gedicht an einem Rotterdamer Bauzaun (frei übersetzt):
Rotterdam ist nicht romantisch,
hat keine Zeit für Geschwätz –
nicht interessiert an Ratschlägen und
hört nicht auf Gesäusel
Es ist nicht fotogen und
scheint nicht mehr zu sein als es ist.
Eckig und kantig liegt es im Gegenlicht.
Rotterdam ist keine Täuschung,
um es zu filmen ist es viel zu echt.
J.A. Deelder
Hinweis: Ich danke Rotterdam Partners und dem NBTC für die Unterstützung meiner Recherchen zu diesem und meinen anderen Beiträgen aus Rotterdam. Auf die Inhalte haben beide keinen Einfluss genommen.
Rotterdam – Resilient City:
Rotterdam bereitet sich auf die Folgen des Klimawandels vor. Die insgesamt 18 Quadratkilometer Flachdächer werden begrünt und Regenwasser aufzufangen und die Stadt im Sommer abzukühlen. Überall in der Stadt entstehen neue Unternehmen, die sich der Kreislaufwirtschaft verschrieben haben, zum Beispiel das Gründerzentrum Blue City und die Floating Farm, der erste schwimmende Milchvieh-Hof in einem ehemaligen Hafenbecken.

Rotterdam Info
Rotterdam Info, Coolsingel 195 und im Hauptbahnhof Centraal Station, Tel +31 10 790 01 85, hier gibt es auch die Rotterdam Welcome Card mit Vergünstigungen für 50 Restaurants, Museen, Läden und Sehenswürdigkeiten. Sie gilt auch drei tage lang als Fahrkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel.
Niederländisches Büro für Tourismus und Convention
Im Mai 2020 richtet Rotterdam den European Song Contest ESC aus (wenn er nicht wegen des Corona-Virus abgesagt wird)
Holland-Infos satt (auch für Leute, die in die Niederlande auswandern wollen) bietet Simone Gorosics auf Deutsch
Indie Guide von Einheimischen (auch als App):
Stadtmagazin mit vielen touristischen Informationen
Online-Veranstaltungskalender mit vielen Adressen
kostenloses Lifestyle-Stadtmagazin mit Terminen und Adressen
Anreise:
Die niederländische Staatsbahn (NS) funktioniert ähnlich zuverlässig wie die SBB. Die meisten Züge haben W-Lan an Bord. Rotterdam ist stolz auf sein neues, futuristisches Bahnhofsgebäude Centraal Station.
anschauen:
Keine andere europäische Stadt versammelt auf so kleiner Fläche so viele ausgefallene Beispiele moderner Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts – vom Wiederaufbau nach 1945 bis heute. Hier lohnt sich eine von Experten geführte Architektur-Tour, zum Beispiel Architour (auf Deutsch) des europaweiten NetzwerksGuiding Architects.
Office for Metropolitan Information OMI, Schiekade 205, und die Touren unter https://urbanguides.nl

Markthalle (Markthal): Die größte überdachte Markthalle der Niederlande beherbergt rund 100 Lebensmittelstände, 15 Food Shops und 8 Restaurants. Von frischem Brot, Käse, Fisch und Geflügel bis hin zu Blumen und Pflanzen findet sich hier alles unter einem Dach. Die meisten Besucher kommen wegen der Architektur. In einem weiten Bogen wölbt sich eine bunt bemalte Decke über die halle. In der Hülle liegen mehr als 200 Wohnungen und Büros. Darin wohnen und arbeiten die Leute mit Blick auf das Marktgeschehen. Tipp: Deutlich preiswerter als in der Halle kauft man dienstags und samstags vormittags auf dem ganz normalen Markt vor der Halle ein. Dort findet man auch die Einheimischen, die sich den Einkauf an den Ständen innen nicht leisten können oder wollen, Ecke Binnenrotte / Blaak vor der Laurentiuskirche, direkt hinter der Haltestelle ‚Rotterdam Blaak‘ geöffnet von 10:00 bis 20:00 Uhr.
Würfelwohnungen: 1973 entwarf Architekt Piet Blom die schrägen Wohnungen auf Betonpfeilern, die elf Jahre später in der Rotterdamer Innenstadt gebaut wurden. Ein Eigentümer hat seine Wohnung im Originalzustand zum Museum gemacht. Vielleicht wollte er in den engen, verschachtelten Räumen lieber nicht wohnen. Überliefert ist das Zitat eines Schweizer Architekturprofessors: Beim Anblick der Kubuswohnungen soll er zu seinen Studenten gesagt haben: „Kommt mir ja nicht auf die Idee, so einen Scheiss zu entwerfen.“ Overblaak 70

Groot Handelsgebouw (Großer Handelshof): 1947-53 nach Plänen von H.A. Maaskant und W. van Tijen erbautes größtes Handelszentrum der Niederlande, mitten hindurch führt eine 1,5 km lange Strasse, Stationsplein 45 (direkt am Hauptbahnhof)
Lijnbaan: Europas älteste Fussgängerzone, die in ihrer Grundstruktur immer noch so aussieht wie nach ihrer Gründung 1948 – für Fans der Nachkriegsarchitektur ein Leckerbissen.
Erasmusbrücke: Die 1996 fertig gestellte, 800 Meter lange Stahlseilbrücke nach einem Entwurf von Ben van Berkel ist das neue Wahrzeichen der Stadt
Kop van Zuid:
Gleich jenseits der Erasmusbrücke finden sich auf einer Insel die wichtigsten Neubauten der Stadt: Der 44 Etagen hohe Büro- und Wohnturm De Rotterdam („die vertikale Stadt, www.derotterdam.nl) nach Plänen von Rem Kolhaas, der mit 165 Metern höchste Wolkenkratzer des Landes Maastoren, das Neue Luxor Theater und der Wolkenkratzer mit der schrägen Fassade von Renzo Piano.
Von nagelneuen Wolkenkratzern umwuchert erinnert das einstige Hauptgebäude der Holland-Amerika Line (erbaut 1901 – 17 im Jugend- und Art-Deco-Stil, heute Hotel New York) an die vielen Auswanderer, die von hier in die Neue Welt aufgebrochen sind. Der Männer-Friseursalon im Untergeschoss ist komplett im Stil der 1920er und 30er Jahre eingerichtet. Die Kunden bekommen die Haare wie damals geschnitten.
Von hier führt eine neue Fussgängerbrücke auf die Nachbarinsel Katendrecht, einst Chinatown, bis in die späten 90er Jahre Rotlichtviertel und heute beliebtes Wohngebiet. Auf dem Industriegelände hinter der Brücke haben sich in Fabrikhallen junge Start-Ups, Kneipen, Restaurants und die Fenix Food Factory mit mehreren stylischen Restaurants, Cafés, Essständen, einer Bäckerei einer Kaffeerösterei und einem Buchladen angesiedelt. Ihre Zutaten beziehen sie aus Rotterdam und Umgebung, Veerlaan 19D . Gleich dahinter liegt der Hauptplatz von Katendrecht mit vielen Bars und Kneipen.
Nebenan hat Fotograf Paul Posse in einer rohen Fabrikhalle sein Restaurant eröffnet. Er nennt es Laden, Restaurant, Galerie, Kunstlaboratorium und Espressobar. An der Wand hängt, was er sammelt: Fotokunst, klassische alte Fahrräder und mehr. Die frischen Gerichte kocht auch er möglichst aus heimischen Zutaten, Veerlaan 13, Tel. +31 10 7371815

Van Nelle Fabrik: Etwas außerhalb liegt die 2014 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärte Van Nelle Fabrik. 1925 – 31 bauten die Architekten J.A. Brinkman and L.C. van der Vlugt hier die damals modernste Fabrik im Bauhaus-Stil. Van Nelleweg 1
Euromast: Vor allem der Ausblick von der 100 Meter hoch gelegenen Terrasse des Fernsehturms (erbaut 1960 nach Plänen des Architekten H.A. Maaskant) lohnt den Ausflug. Oben gibt es ein Restaurant, im Fuss des Turms ein sehr nettes Café, Parkhaven 20
Hafenrundfahrt: Eine 75-minütige Tour durch den größten Hafen Europas mit Erklärungen auch auf Deutsch bietet Spido Tel. +31 (0)10 278 99 88. Die Boote legen am Fuss der Erasmusbrücke (auf der Innenstadt-Seite) am Willemsplein 85 ab
Die aus Crowndfunding-Mitteln finanzierte gelbe Holzbrücke Luchtsingel führt über verlassene Bahngelände an der ehemaligen Station Hoofplein, neue Gemeinschaftsgärten und einen kleinen Skulpturenpark in einen Hinterhof mit schrägen Open-Air-Bars. Das Restaurant im 1000 qm – Dachgarten (Dakakker) auf dem Schieblock Hochhaus bietet einen Blick über die Stadt
Museen:
Einige Kunstmuseen wie die Kunsthalle oder die Sammlung Boijmans Van Beuningen im gleichnamigen Museum von 1849 liegen im bequem zu Fuss erreichbaren Museumspark. Für fünf Museen gibt es ein Kombitecket
Das Maritim-Museum zeigt mehr als eine Million Ausstellungsstücke aus dem und über das Meer, darunter ein Nachbau des Rotterdamer Hafens, einer Ausstellung zur Geschichte der Kartografie ein begehbares Kriegsschiff von 1868. Für Kinder gibt es ein Lernprogramm mit Professor Plons (Plumps), Leuvehaven 1, . Das Haus Sonnenveld (heute das Nieuwe Instituut) von 1933 gilt als besonders gut erhaltenes Beispiel des „Neuen Bauens“, das sich am deutschen Bauhaus orientierte.
Das Niederländische Fotomuseum, größtes im Lande, hat eine Sammlung von fünf Millionen Bildern, Wilhelminakade 332, Kop van Zuid
Museums- und Hotelschiff SS Rotterdam: Das letzte in den Niederlanden 1957 – 59 gebaute Passagierschiff SS Rotterdam haben Liebhaber mit Unterstützung der Stadt originalgetreu restauriert. Ehemalige Besatzungsmitglieder führen die Besucher über das Schiff, auf dem auch Tagungsräume, ein Restaurant und ein Hotel der Westcord Gruppe mit 254 Kabinen untergebracht sind, 3e Katendrechtsehoofd 25, Tel. +31 10 2973090
Weltmuseum (Wereldmuseum): völkerkundliche Sammlung mit ausgefallenen Exponaten aus der ganzen Welt in einem blütenweißen, restaurierten Prachtbau von 1851 am Fährhafen (Veerhaven) in dem viele alte Segelschiffe liegen, Willemskade 25
Ausgehen:
Kneipen gibt es reichlich in Rotterdam, ebenso chinesische und indonesische (ehemalige niederländische Kolonien Sumatra und Java) Imbissbuden.
Sehr lecker (und nicht billig) ist das Rodin an der Schilderstraat, Verlängerung der Witte de Withstraat, einer der beliebtesten Ausgehmeilen der Stadt mit vielen Kneipen, Bars und Restaurants
Viele ausgefallene Restaurants, Kneipen und kleine Geschäfte finden sich am Oude und Nieuwe Binnenweg, der in den Alten Westen der Stadt führt.
Gemütlich ist das knallrote alte englische Feuerschiff, das ein Kneipier zu einer Gaststätte mit Tanzfläche umgebaut hat. An Bord gibt es Konzerte und Themenparties. Das schwimmende, mit einem Holzofen beheizte Whirlpool Hot Tug vermietet er an Gruppen, die damit durch den Hafen kurven können. Wijnhaven 101, Tel. +31 10 8404730
Der angeblich angesagteste Club der Stadt findet sich auf dem Dach des Großen Handelshofs. Geboten sind dort Essen, Trinken, Tanzen und mehr. Highlight: Die 500 meter lange Dachterrasse mit Blick über die Stadt. The Suicide Club, Groot Handelsgebouw Eingang A ggü. Hauptbahnhof, Stationsplein 45
Einkaufen:
Neben den üblichen Ketten-Filialen aus aller Welt finden sich in Rotterdam zahlreiche kleine Designer-Läden mit ausgefallenen Produkten, die es wirklich nur hier gibt.
Das Groos (alt-niederländisch für Stolz) haben einheimische Künstler und Designer eingerichtet, um hier ihre eigenen Produkte zu verkaufen -alles made in Rotterdam, Schiekade 203,
Kunst, Laden und Café verbindet das Lostenfound, Coolsingel 71,
Schmuck, Schuhe, Accessoires, Kleidung, Vintage und mehr, Office INCONCEPTstore, Smitshoekseweg 214
Sonstiges:
Die Seite www.wakeupinit.com vermittelt während der Festivals Übernachtungsmöglichkeiten bei Teilnehmer/innen
Zimmer auf Zeit: www.thestudenthotel.com
Wohnungs- und Zimmersuche: https://www.stadswonenrotterdam.nl
Holland oder Niederlande:
Offiziell heißt das Land (Königreich der) Niederlande. Diese bestehen aus zwölf Provinzen, darunter Nord– und Südholland, in der Rotterdam liegt. Weil sich in den beiden holländischen Provinzen ein Großteil der Wirtschaft und die wichtigsten Städte ballen, hat sich der Name Holland für die ganzen Niederlande verbreitet.
Verkehrsmittel:
Rotterdam hat ein vorbildliches Tram- und Metronetz. Tagsüber kommen die Bahnen alle paar Minuten. Kompliziert ist das Ticket System. Man kauft eine Plastikkarte, die man für einzelne Fahrten oder ganze Tage auflädt. Beim Einsteigen hält mal die Karte dann an die Lesegeräte oder – an den U-Bahnstationen an die Kartenleser der Sperren. Damit keine weiteren Kosten abgebucht werden muss man beim Aussteigen auschecken, indem man die Karte wieder an das Lesegerät hält. Eine Einzelfahrt kostet 3 Euro. Auf der Neuen Maas verkehren zum U-Bahn- und Tram-Tarif Wasserbusse
Nicht billig aber rasend schnell (bis 90 km/h) verbinden die kleinen schwarz-gelben Wassertaxis 55 Anlegestellen an der neuen Maas und verschiedenen Hafenbecken in der Stadt tel. +31 10 4030303,
Eine Antwort auf „Wolkenkratzer statt Windmühlen: Rotterdam kommt ganz „groos“ raus“
…wow!!!!…. – soviel Leben, pure Freiheit – vollendete Echtheit!
… diese Reportage – Dein Einfühlungsvermögen für diese Stadt – so unendlich viel Power – bleiben vermutlich, sogar von Dir selbst, unübertroffen!