Zuletzt aktualisiert am 11. August 2019 um 16:12
Stilles Winter-Riga:
Gelegentlich rumpeln Autos über das nass glitzernde Kopfsteinpflaster, vermummte Gestalten huschen durch leere Altstadtgassen. Die Fassaden schimmern im zarten Rosa-Blaugrau der Dauerdämmerung, bis die schweren Regenwolken Himmel und Stadt bleigrau färben. Die wenigen Passanten werfen im fahlgelben Licht der Straßenlaternen lange Schatten.
Die Brüche der Stadt treten deutlicher zu Tage als im Sommertrubel. Die fast völlig sanierte Altstadt nennen viele Einheimische „Disneyland“, eine künstliche Welt voller Andenkenläden und pseudo-lettischen Touristenkneipen. Auf dem Domplatz bettelt der übrig gebliebene Weihnachtsmarkt mit dudelnden lettischen Schlagern und Weihnachtsliedern um Besucher, vergeblich. Einsame Verkäuferinnen frieren in ihren Holzbuden hinter Stapeln von Honiggläsern, Schokoladen und Auslagen lettischer Strickwaren.
„Schicke und Deine Wünsche“

Zu Füssen des Freiheitsdenkmals kurbelt Schokoladenhersteller Laima sein Nach-Weihnachtsgeschäft an: „Schicke uns Deine Wünsche und bringe den Weihnachtsbaum zum Leuchten“, steht auf einem großen Schild in Lettisch, Russisch und Englisch vor einem Tannenbaum voller bunter Lichterkugeln. Die Wunsch sms an Laima kostet 70 Cent.
Not Real Science im Leningrad
Im „Leningrad“ sitzen ein paar junge Kerle an der Bar, zwei Letten und ein Ire, der an der Uni in Tartu Politikwissenschaften unterrichtet. „Not real Science, just Political Science“, meint er lachend und erklärt seinem angetrunkenen Publikum mit schon etwas lallender Stimme, warum es echtes gutes Guiness nur bei ihm zuhause in Irland gibt. Zwei Mädchen haben sich zusammen in ein Handy vertieft. Eingerichtet ist die Kneipe wie ein sowjetisches Wohnzimmer in den 70er Jahren: Schrankwandcharme, bräunliche Tapete, auf dem Tresen steht ein alter russischer Mixer, im Schaufenster ein Röhrenradio. Der Drehgriff führt zu Sendern wie Moskau, Warschau, Woronesch oder Minsk. Auch die hiesige Radiowelt endete damals – zumindest offiziell – am Eisernen Vorhang.
Das Riga der Einheimischen
Nördlich der Esplanade und hinter dem Hauptbahnhof beginnt das Riga der Einheimischen: Auf dem größten Markt der baltischen Länder, dem Centraltirgus verkaufen die Händler in den beiden ehemaligen Luftschiffhallen aus den 20er Jahren von Billigklamotten über Obst, Gemüse, Käse, Fleisch und Fisch mehr, als ich mir vorstellen kann.
Draußen im Schneeregen sitzen zwischen den Ständen einige alte Frauen, die ein paar Gläser selbst eingelegtes Weißkraut, Gurken und andere russische Spezialitäten feilbieten. Nur selten kauft jemand bei Ihnen ein. Lettisch hört man hier selten.
Die Hälfte Russisch
Rund die Hälfte der Rigaer spricht Russisch. Sie selbst oder ihre Eltern sind einst in die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik gezogen. Nun sind sie Fremde. Den lettischen Pass bekommt nur, wer die Sprachprüfung und den Einbürgerungstest besteht. „Kein Problem“, erzählt mir später ein russischer Taxifahrer. Die Prüfung sei sehr einfach.
Lebens- und andere Künstler
Viele neue Kneipen, Cafes und Bars in denen selten Touristen auftauchen. Fremde fallen auf. Im „Gauja“ zum Beispiel fragt mich einer der mehr oder minder angetrunkene Typen gleich, woher ich käme. So finde ich Freunde für den Abend, ein in Riga gestrandeter Deutscher der inzwischen passabel lettisch spricht, ein Fotograf und ein paar andere (Lebens)künstler.
Sowjet-Spuren
Viele Häuser und manche Straßenzüge im nördlichen und östlichen Riga tragen noch ihr verwittertes sowjetisches Gesicht: Verrusste graubraune Fassaden warten auf frische Farbe. Uralte Straßenbahnen rumpeln über die Straßen. Mittendrin kommt dann ein nagelneues Modell. Längst sich nicht alle der rund 800 Jugendstilbauten der Stadt renoviert. In manch leerstehenden Laden sind moderne Cafés einzogen, viele witzig, mit alten Möbeln und Schnickschnack dekoriert wie das Bonera (Bonheur) oder das Trusis. Meist gibt es selbstgebackenen, frischen Kuchen oder leckere Suppen.
„Besetze mich“
Im Bonera treffe ich Marcis und Janis. James, ein Engländer, der in Riga Fahrradtouren anbietet, hat mit von den beiden erzählt. Als er mein Interesse bemerkt, gibt er mir die Telefonnummern. Der unkomplizierte Umgang hier gefällt mir. Du fragst, bekommst eine Antwort und meist gleich eine Telefonnummer von jemandem, der oder die weiterhilft. Mit einer lettischen Sim-Karte für 1 Euro 41 im Handy erschließe ich mir so schnell die Stadt. Marcis spricht druckreifes Englisch und gut Deutsch. Viele seiner Ideen hat er sich aus Berlin geholt. Auf https://www.freeriga2014.lv sammelt er mit ein paar Freunden Adressen leerstehender Gebäude in Riga. Selbst in besten Lagen am Esplanade-Park in Sichtweite der Altstadt steht neben den Botschaften der großen westlichen Länder ein ganzer Block leer: Marcis zeigt mir das ehemalige Innenministerium: Zwei Meter hohe, erblindete Flügelfenster reihen sich über mehr als zwanzig Meter auf fünf Etagen Meter aneinander.
Free Riga
Die Stadt habe den 150 Jahre Gebäude 2006 an eine Hotelkette vermietet. „Seitdem passiert hier nichts“, sagt der 28jährige. Auf den Fenstern des rußgrau-braunen Gebäudes kleben runde Aufkleber mit der Aufschrift „Occupy Me“, „Besetze mich“. Free Riga hat 3000 davon drucken lassen und klebt sie auf Fenster und Türen leer stehender Gebäude. „Nein“, versicht Marcis, „das ist keine Aufforderung, die Häuser zu besetzen. Wir suchen die Eigentümer und bringen sie mit Menschen zusammen, die diese Häuser nutzen wollen.“ Kunststudenten der Akademie gegenüber suchen zum Beispiel Ateliers und Ausstellungsräume. Rund 400 ungenutzte Gebäude zeigt der Stadtplan auf der Internetseite von Free Riga inzwischen und täglich kommen neue hinzu.
„Die Krise hat der Stadt gut getan“
„Die Krise“, erzählt mir später ein australischer Journalist, der seit 20 Jahren in Riga lebt, „has done some fucking good to this city“: weniger Staus, weniger Neureiche, die überteuerte, langweilige Apartmentblocks in die Stadt klotzen und mehr Kreativität. Riga habe in der Krise seine Seele wieder gefunden. Nach dem Absturz der Wirtschaft 2008 geht es Lettland wieder besser.
Vor allem die Älteren fremdeln noch mit dem gerade eingeführten Euro. Kassiererinnen halten die Scheine mit skeptischem Blick gegen das Licht. Manch eine streicht behutsam mit der Hand über das fremde Papier, als wolle sie es auf Echtheit prüfen. Kunden zögern, rechnen in die vertrauten Lats um und suchen oft lange nach den passenden neuen Münzen und Scheinen.
Die Rückkehr der Zuversicht
Doch der Optimismus ist zurück. Drüben in Kipsala, auf der anderen Seite des großen Flusses, hat eine Architektin zusammen mit ihrem Mann, dem ehemaligen Premierminister eine komplette Holzhaussiedlung vor dem Abriss gerettet. Zum Nato-Gipfel 2004 wollte die damalige Regierung den vermeintlichen Schandfleck abreißen, um Platz für neue Glaspaläste zu schaffen. Architektin Zaiga Gaile und ihr einflussreicher Mann Maris setzten sich für die verfallenden Hütten am Fluss ein, erwarben eine nach der anderen, um sie zu sanieren und mit Gewinn weiter zu verkaufen. 15 der traditionellen Holzhäuser aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben die beiden so gerettet und damit eine Menge Geld verdient. Vor 20 Jahren kostete ein Quadratmeter Grund am Südufer der Daugava mit Blick auf die Altstadt ungerechnet zehn Dollar. Heute gehen die Grundstücke für 2000 Euro/Quadratmeter weg.
Riga Info:
Anreise:
Von vielen deutschen Flughäfen bietet die lettische Fluggesellschaft Air Baltic Flüge nach Riga an. Außerdem gibt es Verbindungen mit der polnischen LOT via Warschau und der russischen Aeroflot via Moskau.
Mit der Bahn braucht man von Berlin via Vilnius nach Riga knapp 35 Stunden. Von Hannover nach Minsk fährt ein Nachtzug (Euronight). Für die Reise durch Weißrussland muss man sich allerdings vorab ein Transit-Visum besorgen, ebenso für eine Reise durch das Kaliningrader Gebiet (Königsberg), das zu Russland gehört.
Fähren:
Aferry bieten einen Überblick über Fährverbindungen zahlreicher Gesellschaften
Bus:
Eurolines bieten regelmäßige Busverbindungen aus verschiedenen deutschen Städten nach Riga an, z.B. ab und zurück nach Berlin für 90 – 141 Euro, Fahrzeit ca. 21 Stunden Etwas günstiger sind die Verbindungen der ecolines http://ecolines.net zum Beispiel von Berlin nach Riga.
Info:
Fremdenverkehrsamt Lettland mit sehr vielen Infos und Links auf der Seite:
Infos satt, Standards und Ausgefallenes: http://www.likealocalguide.com/riga
Dayout: kleine, lettische Incomingagentur mit vielen Infos (Englisch) auf der Website
Eat Riga: Themen-Stadtrundgänge und Radtouren:
Übernachten:
Günstiges, freundliches Doma Hostel (Duschen und Toiletten auf dem Flur, kein Frühstück) zentral mitten in der Altstadt von Riga
Jugendherbergen in Lettland
Essen:
Lecker: Berühmt ist Riga für seine Schokolade (Leima) und für die lettischen Kuchen, Törtchen und andere süße Leckereien: (Fast) jede Bäckerei in Riga bietet eine erschlagende Auswahl….
Ausgehen:
Kanepes Kulturzentrum, Skolas Iela 15, Tel. +371 29 404 405
An der eher unscheinbaren Miera Iela (Friedensstraße) am Nordrand der Innenstadt siedeln sich zwischen alten Industriebauten und verlassenen Fabriken immer mehr ausgefallene Cafés und Designerläden an, zum Beispiel der Second Hand Laden
Stylisch: Die Skylinebar in 26. Stock des aus Sowjetzeiten erhaltenen und inzwischen komplett renovierten Hotels Latvija (Radisson Blue) bietet zum Cocktail den ultimativen Blick über das Lichtermeer der Stadt. Drinnen tummelt sich die Jeunesse Dorée der Stadt.
Shopping:
Zentralmarkt: Fünf riesige Markthallen, überdacht mit den Tonnendecken ehemaliger Zeppelinhallen aus den 20er Jahren: Noch bietet er eine Reise in alte russische Zeiten. Demnächst werden die Hallen nochmal „modernisiert“:
Berga Bazars: Historische Einkaufspassage mit vielen Läden, Cafés, restaurants und Öko-Markt
Museen:
Das Besatzungsmuseum erinnert an Zeit unter der Sowjetherrschaft. Gut erklärt sind das Gulag-System und die stalinistischen Verbrechen. Nur eine kleine Ecke widmet sich dem Nazi-Terror in Lettland 1941 – 44.
Riga Art Space: wechselnde Kunstausstellungen und Multimedia-Events mitten in der Altstadt
Jugendstil zum satt sehen: Riga Art Nouveau Museum (Rigas Jugendstila Muzejs), Alberta Iela 12
Das Freiheits-Freilichtmuseum versammelt Dorfarchitektur und Landleben aus 300 Jahren, Ethnografiskais brivdabas muzejs im Stadtteil Bergi
Fernsehturm aus dem 80er Jahren mit Aussichtsplattform
Moskauer Vorstadt:
Im Schatten von „Stalins Geburtstagstorte“, dem Hochhaus der Universität von 1958 im „Zuckerbäckerstil“ (von oben hat man eine wunderbare Aussicht auf die Stadt) versammeln sich die letzten alten russischen Holzhäuser. Zwei Straßen des einst berüchtigten Ghettos von Riga sind hier fast komplett erhalten. Während des Zweiten Weltkriegs sperrten die deutschen Besatzer die Rigaer Juden hier ein. 1941 kamen 25.000 Juden aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ins Ghetto Riga. Überlebt haben nur wenige. Am Original-Schauplatz hat ein Rabbiner ein Museum gebaut, das an die Opfer erinnert: Stacheldraht, Ghettostraße, ein Wohnhaus aus jener Zeit und die Tafel mit den Namen der 70.0000 Ermordeten.
45-minütige Führungen durch den Fundus des Nationaltheaters (Aspazijas bulvaris 3)
Petrikirche (Dom): größte Kirche im Baltikum, exzellente Aussicht von Kirchturm (10-17 Uhr, 8 Lati Eintritt)
Ausflüge:
Die beliebtesten Ausflugsziele der Rigaer sind
- das (teure) Seebad Jurmala (25 km westlich) mit seinem mehr als 25 Kilometer langen, breiten Sandstrand, den Dünen, Kiefernwäldern und den vielen alten Villen. Und Holzhäusern, die immer mehr Neubauten weichen müssen und
- der Gauja-Nationalpark in Sigulda (60 km nord-östlich) mit seiner Seilbahn über das Gauja-Tal, von der man am Wochenende Bungee-Springen kann, dem Tarzan-Erlebnispark und dem Aerodium, einem Windkanal in dem man frei in der Luft schweben kann.
Vom Bahnhof in Riga (nahe Zentralmarkt östlich der Altstadt) fahren regelmäßig direkte Züge der lettischen Bahn nach Jurmala und Sigulda
Lesen:
Deutschsprachige Zeitung für die baltischen Länder: http://www.baltische-rundschau.eu/
Lettland-Blog: http://lettland.blogspot.de/