Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2018 um 20:14
Belgrad. Beograd, die „Weisse Stadt“ trägt ihre Narben im Gesicht wie eine vom Leben gezeichnete stolze alte Frau. Die kaum verheilten Wunden der Kriege, Eroberungen und Zerstörungen springen mich an – ein begehbares Geschichtsbuch. Umbrüche schaffen Freiräume für Ideen, bis der nächste Investor mit reichlich Geld und meist wenig Geschmack die Lücken wieder zubaut.
Patchwork aus Versuch und Irrtum
So gedeiht, verwelkt und erblüht das Patchwork aus Versuchen und Irrtümern, neben- und übereinander, ziel- und planlos abseits aller Regeln und Konventionen: Mondäne Boulevards mit Art-Déco Bauten, unterbrochen von Bauhaus- und Betonfassaden des Brutalismus der Nachkriegszeit, zerbröselnde Jugendstil-Fronten zwischen geschwungen-leichten Betonbauten des Fortschrittsglaubens, dazwischen das von der NATO 1999 zerbombte Hochhaus des Staatssenders, eine Kulturkneipe in einem Hinterhof, eine versteckte Bucht an der Save, in der Boote und Wasservögel in der untergehenden Sonne schaukeln. Plötzlich rieche ich den feuchten Duft des Schilfs, wo mir eben noch der beissende Gestank der Abgase in die Nase gestiegen ist.
Am gegenüberliegenden Ufer ragen graue Betonzähne in den Himmel, manche frisch geputzt, andere von der Zeit geschwärzt, düster und faulig. Reste einer Utopie: Neu- Belgrad sollte sozialistische Musterstadt werden, Heimat des neuen Menschen. Es wurde mit 450.000 Bewohnern vermutlich das größte Plattenbaugebiet Europas. In den 90ern dem Verfall preisgegeben, gilt es Einheimischen nun als ruhiges, grünes Wohngebiet.
Türken, Habsburger, Serben, Bosnier, Kroaten, Händler, Bettler, Künstler, Bohémiens der Zwischenkriegszeit, das Königreich, Nazi-Terror, Titos Selbsverwaltungs-Sozialismus – alle haben sie hier – an der Grenze zwischen Mitteleuropa und dem Balkan ihre Spuren hinterlassen.
Kurz vor dem Untergang dieser Welt entstand an der nach Bosniens Hauptstadt benannten Sarajevska Strasse ein großzügiges Wohnhaus. An der verwitterten Fassade erinnern Jugendstilelemente an die Zeit, als sich in der Belgrader Innenstadt reiche Bürger solche Bauten leisten konnten. Das Haus stand einige Zeit leer, bis junge Leute ihm ein neues Leben schenkten. In den hohen Räumen stehen ein paar dunkle, rohe Holztische auf dem Parkettboden. Die Wände nackt, die Tische nur mit dem nötigsten gedeckt, Teller, Besteck, Wasser- und Weingläser.„Ich möchte, dass sich unsere Gäste auf das Essen konzentrieren können“, erklärt Vanja.
Der schmale 31jährige schaut mich nachdenklich an. Er sieht müde aus. Mit Freunden hat er in der leerstehenden Wohnung ein Restaurant eröffnet: das IRIS – New Balkan Cuisine. Die schweren heimischen Gerichte – fetttriefende Fleischberge, Kohl, Gemüse, haben sie „modernisiert“: leicht, regional, gesund.
Kochen nach den Rezepten der alten Frauen auf den Dörfern
Vanja fährt aufs Land, um alte Frauen auf den Dörfern nach ihren Rezepten zu fragen, sucht Inspirationen in traditionellen Bauerngärten. Seine Lieferanten kennt er persönlich. Die meisten Zutaten in der Küche seien Bio, auch ohne Siegel. Die Zertifizierung können die kleinen Bauern nicht bezahlen. Das Brot backt das Team des IRIS selbst. Zur Begrüßung servieren sie Rakij – serbischen Obstler, aus Pflaumen, Quitten oder Aprikosen.
Zum Essen erscheinen Gäste, die sich etwas Besonderes gönnen wollen. Zwischen 3.000 und 4.000 Dinar,rund 40 Euro kostet das Menü, fast ein Zehntel des serbischen Durchschnittsgehalts. Doch die Nachfrage wächst, obwohl das Lokal im Hinterhaus nur findet, wer die Adresse kennt. Es spricht sich herum.
Wie so viele strandete Vanja mit seinen Eltern während des Krieges in den 90er Jahren in Belgrad. Aufgewachsen ist er in Bosniens Hauptstadt Sarajewo, bis im Kugelhagel der Belagerung das Leben dort unerträglich wurde.
Das IRIS liegt am Rande des einst türkischen Viertel Dorćol zwischen der mondänen Innenstadt und dem Donau-Ufer. Teuer geworden sind die Wohnungen in den Altbauten der vorletzten Jahrhundertwende. In den von alten Bäumen gesäumten Straßen eröffnen ausgefallene Cafés, Bars und Restaurants: Kneipen wie die Kultbar Centrala, kleine Galerien, die selbstverwaltete, als Kollektiv geführte Kulturkneipe „Zadruga Oktobar“ (LPG Oktober), ein zum quietschbunten Garten mit geflügeltem Pferd und fliegendem Elefanten umgestalteter Innenhof-Biergarten – oder das „Dorćol Platz“, den ich wie so vieles hier ohne einheimische Hilfe nie gefunden hätte.
Fünf Gründer haben die Hallen einer ehemaligen Autowerkstatt zu Bars und Kneipen umgebaut: Rohe Holztische, eine Bühne, Theke, bunte Lichter über Biergartenbänken. An den weiss gekalkten Werkstattwänden hängt die Ausstellung einer Belgrader Fotografin. Am Wochenende veranstalten die Wirte Flohmärkte, Konzerte, Theateraufführungen und Filmabende. Der Indoor-Spielplatz für die Kinder der Gäste ist bald fertig.
Die Festung mit dem offenen Tor
Dimi hat mich hier her gebracht. Der „bayerische Serbe“ sieht sich als echten Belgrader. Wie seine Eltern zogen in den 60er und 70er Jahren tausende „Jugos“ aus Marschall Titos Reich dort hin, wo es gut bezahlte Arbeit gab: nach Österreich und Deutschland. So wuchs er in München auf. Heute spricht der jugendliche Typ mit Stoppelbart Bayerisch, Deutsch, Englisch und Serbisch, was eigentlich Serbokroatisch ist und sich von der Sprache der „bösen Nachbarn“ kaum unterscheidet.
Warum sich die einstigen Jugoslawen vor gerade mal 20 Jahren gegeneinander in den Krieg hetzen ließen, versteht er wie viele hier nicht. „Ich kenne niemanden, der für Milosović war“, sagt Dimi. Ihn zog es nach dem Studium an der Isar in die Heimat seiner Eltern. Er blieb, weil er »das Lebensgefühl hier mag«: Die Menschen leben im Heute, gehen aus und genießen, was sich ihnen bietet. Viele Kulturen haben sich hier an der Grenze zwischen Orient und Okzident vermischt und gegenseitig inspiriert. „Unser Wappen“, ergänzt Dimi, der sein Geld als Touristenführer verdient, „ist eine Festung mit einem offenen Tor“.
Die Jahrhunderte lange türkische Fremdherrschaft hat die zahlreichen Kafana genannten Kaffeehäuser hinterlassen – und die Bäckereien, die wie im Orient gefüllte Teigtaschen und klebrig-süße Bakhlava verkaufen.
Zu den Traditionen kommt ständig Neues.
Belgrad ist immer auf dem Sprung. Überall wird gebaut, saniert, umgestaltet, als bedeute Stillstand den Tod.
„Pop Up City“ nennen manche ihre Stadt. „Wenn Du in zwei Jahren wieder kommst, erkennst Du die Stadt kaum wieder“, verspricht Dimi.
Um mir das neueste Beispiel dieses permanenten Wandels anzusehen, gehe ich zum Hauptbahnhof: ein in die Jahre gekommener Bau aus dem 19. Jahrhundert, verschlafen wie eine Provinzstation im Nirgendwo.
Im Bahnhofscafé serviert mir ein altmodisch in schwarz-weiss gewandeter Kellner für ein paar Rappen einen frischen Kaffee. Die abgewetzten Tische tragen rot-weiss karierte Decken. Ein Mann lässt sich bei einem Glas Tee die Herbstsonne in sein dunkles, zerfurchtes Gesicht scheinen. Wir sind die einzigen Gäste. An der Wand erinnert eine Marmortafel unter dem roten Stern des untergegangenen Jugoslawien an die Eisenbahner, die die deutsche Besatzung 1941 – 45 nicht überlebt haben.
Hinter den Gleisen gibt ein Durchgang den Weg in Belgrads vermeintlich goldene Zukunft frei. Bagger reissen die alten Fabrik- und Lagerhallen ab, in denen bis vor kurzen mehr als 1000 Flüchtlinge hausen mussten. Auf dem Weg über die Balkanroute waren sie in Serbien hängen geblieben. Inzwischen ließ sie die Regierung in Lager verfrachten. Zerschlissene Sessel, Sofas und Decken erinnern in den halb zerstörten Hallen an ihr Schicksal. Hinter den Trümmern ragen zwei halbfertige graue Betontürme in den wolkenlosen Himmel. „Belgrade Waterfront“ verkündet die Bautafel des Unternehmens Eagle Hills aus Abu Dhabi, das größte Bauvorhaben Südosteuropas.
Belgrad im Wasser
Der Investor baut zusammen mit dem serbischen Staat auf 177 Hektar eine neue Wolkenkratzer-Stadt: 5700 Wohnungen, Büros, Vergnügungsmeile, Einkaufszentren, Uferpromenade und Luxus-Hotels in bester Lage am Save-Ufer. Wer dem Vorhaben nicht freiwillig wich, wurde geräumt. Medien berichteten, wie maskierte Männer Anwohner im April 2016 ohne Vorwarnung aus ihren zum Abriss bestimmten Häusern prügelten.
Ein einziges Häuschen trotzt unversehrt hinter einem Mäuerchen der Brache. Sein Bewohner konnte anhand alter Grundbücher nachweisen, dass ihm das Grundstück gehört. Niemand weiss, wie lange er dem mehr als drei Milliarden teuren Glitzer-Quartier an der Save noch widerstehen wird.
Ertränkt Belgrad nicht
Kritiker wie die Bürgerinitiative „Ertränkt Belgrad nicht“ vermuten Korruption hinter dem Grössenwahn. Nur wenige Einheimische werden sich die Wohnungen leisten können und viele werden dort nasse Füsse bekommen. Das Ufer steht häufig unter Wasser.
„Küste haben wir keine, aber Strand“, erzählt Dimi und schlägt uns einen Ausflug ans Belgrader Meer vor. Am künstlichen See Ada Ciganlija hat die Stadt Sand aufgeschüttet. An der Promenade reiht sich ein Strandcafé ans andere.
Wenn es etwas zu feiern gibt, sind die meisten jungen Belgrader dabei. Legendär seien die – oft überteuerten – Partyboote, zu Clubs umgebaute Ausflugsdampfer und Restaurant-Schiffe wie das 20-44 und zahlreiche Nachtclubs. Filip, 31jähriger Nachtschwärmer und Sänger, mit dem ich in der Karaoke- und Konzertkneipe Wurst-Platz ins Gespräch komme, lobt die Musikszene seiner Heimatstadt. Cover-Bands wie Best Beat, Band X oder Belgrad Syndikat hätten es ebenso wie heimische Gruppen mit eigenen Stücken zu überregionalem Ruhm gebracht. Die vielen Clubs und Konzerte seien meist voll.
Serbische Volkslieder zum Tanzen und Mitsingen
Touristen landen meist in den traditionellen Lokalen auf der kopfsteingepflasterten Ausgehmeile Skadarlija. Mit gemischten Gefühlen schlängeln wir uns zwischen Ausflüglern und Gruppen eher älterer Herrschaften ins Dva Jelena. In den „Zwei Hirschen“ servieren Kellner in einer Art Tracht deftige Balkankost. Unter bräunlichen Wandmalereien im Stil der 1920er Jahre schluckt dunkle Holzvertäfelung das spärliche Licht. Sechs mit Gitarren und Mandolinen gerüstete ältere Herren in Hemd, Anzughose und gross-karierter Weste fangen an, herzzerreissende serbische Weisen zu spielen. Auch viele junge Leute singen textsicher mit. Manchen stehen die Tränen in den Augen. Ein älteres Paar beginnt zu tanzen. Eines der Stücke erzählt von der Heimkehr eines Soldaten im Ersten Weltkrieg, der den langen Marsch zum Mittelmeer, die Evakuierung nach Nordafrika und die Rückkehr über den Balkan knapp überlebt hat und nun die Heimat wieder sieht.
Feiern im Hier und Jetzt
Bei aller Feierlaune lebt Serbien in und mit seiner Geschichte. In jahrelangem Kampf befreite sich das Land vor rund 150 Jahren von der türkischen Herrschaft. Dann kamen 1912/13 die Balkankriege, in denen allein 70.000 serbische Soldaten starben. Anschließend begann der Erste Weltkrieg in Sarajevo und Belgrad. Es folgte das Königreich Jugoslawien, ein Putsch, eine Diktatur bis 1941 Kroaten mit der Nazi-Wehrmacht einmarschierten. In den Konzentrationslagern starben Serben, Juden und so genannte Zigeuner. Tausende Widerstandskämpfer verloren im Partisanenkrieg ihr Leben.
Deren Anführer Josip Broz Tito, ein Kroate, regierte Jugoslawien bis zu seinem Tod 1980. Mit dem Ende des Ostblocks zerbrach das Land. Es folgten weitere Kriege, bis 1999 NATO-Flugzeuge Belgrad bombardierten. Der Westen hatte sich auf die Seite des nach Unabhängigkeit strebenden Kosovo geschlagen.
Die Beton gewordene Utopie einer besseren Welt
„Den meisten ging es in Jugoslawien besser“, meint Djordje Milic. Der 26jährige kam in Belgrad zur Welt, als 1991 die jugoslawische Luftwaffe Dubrovnik bombardierte. Kroatien hatte sich kurz zuvor vom Bundesstaat losgesagt. Djordje hat Soziologie studiert, findet wie viele junge Leute keine Arbeit in seinem Beruf. Nun jobbt er als Fremdenführer bei Yugo-Tours.
Das Unternehmen bietet in jugoslawischen Autos aus den 70er und 80er Jahren Nostalgietouren auf den Spuren des untergegangenen Landes an. In einem blass-orangeroten Zastava 101, Baujahr 1979, ruckeln wir über die chronisch verstopfte Branko-Brücke. Im Sumpfland jenseits der Save ließen Tito und seine Sozialisten aus Stein und Beton ihre Utopie bauen: Novi-Beograd, Neu-Belgrad. Das Konzept: Licht und Grün für die Arbeiterklasse, breite Alleen, Parks und alle Einrichtungen des täglichen Bedarfs vom Kindergarten bis zum Kiosk vor der Haustür.
Bei jedem Einkuppeln muss Djordje Zwischen-Gas geben, bis der Motor aufheult. Die Lenkung geht schwerer als bei einem alten Lastwagen.
In einer Seitenstraße setze ich mich ans Steuer. Beim Einparken läuft mir unter der heißen Mittagssonne der Schweiss von der Stirn. Zum Glück funktionieren die Fensterkurbeln. Klimaanlagen gab es damals nur für Luxusautos.
In den Jahren von Zerfall, Krieg und räuberischer Privatisierung der Wirtschaft zu Lasten der Schwächeren wurde Jugoslawien zum nostalgisch verklärten Mythos. Soziologe Djordje hat dafür eine einfache Erklärung: Die Menschen hatten wenig, aber eine Perspektive. Wer sich engagierte, lernte und politisch nicht zu laut rebellierte, fand einen Job, eine wenn auch bescheidene Wohnung und ein sicheres Einkommen. Es gab Aufstiegs-Chancen, die den meisten Serben heute verschlossen sind. Bis in die frühen 80er Jahren war der jugoslawische Selbstverwaltungs-Sozialismus relativ erfolgreich. Zumindest ging es mit der Wirtschaft kontinuierlich bergauf. Freier als im Osten und gleicher als im Westen schufen sich viele ihr kleines Glück mit Fernseher, Kühlschrank, Auto und Datscha.
am Egoismus gescheitert
Gescheitert sei das Land am Egoismus der Eliten in den Bundesstaaten, die sich bei der Privatisierung der Wirtschaft die Taschen füllten. Sie hatten kein Interesse an einem gemeinsamen Land. Die Opfer des großen Abkassierens lenkten sie mit nationalistischer Hetze gegen die Nachbarn von den wirklichen Problemen ab.
Anders als die zentralistisch geplanten Plattenbaugebiete Mittel- und Osteuropas entstand Neu-Belgrad von 1948 bis 1985 Schritt für Schritt nach Plänen unterschiedlicher Architekten. Die Arbeiten wurden ausgeschrieben, so dass Wettbewerbe für mehr Vielfalt sorgten. Tatsächlich gibt es neben heruntergekommenen, eintönigen Betonklötzen aufgelockerte, begrünte Wohngebiete, Parks mit Kinderspielplätzen unter Bäumen. Mittendrin überragt ein Doppelturm die umliegenden Wohnblocks: Der Genex-Turm galt in den 60er Jahren als Vorzeige-Architektur Jugoslawiens.
Niemand hindert uns daran, mit dem frisch erneuerten Aufzug in den 28. Stock zu fahren. Reiseführer würden den Blick auf die Hochhäuser Neu-Belgrads atemberaubend nennen. Doch durch die verdreckten Scheiben sehe ich nur eine vernebelte, mit grauen Wohntürmen gespickte flache Landschaft. Drei Etagen gehen wir zu Fuß über die nackte Betontreppe nach unten. Die Sicht ist dort die Selbe.
Im Hotel Jugoslavija fragen wir den Portier, ob er uns eines der angeblich im Original aus den 60er Jahren erhaltenen Zimmer zeigen kann. Wir bekommen eine komplette Hausführung mit Geschichten und Geschichte, Suite und Doppelzimmer: schwere Ledercouchen auf beige-grauem Teppichboden, mit dunklem Holz vertäfelte Wände im fahlen Licht schlicht gehaltener Kronleuchter. Ich schaue lieber vom umlaufenden Balkon auf die Mündung der Save in die blaugrüne Donau. Am anderen Ufer döst die von dichtem Wald bewachsene „Große Kriegsinsel“ friedlich in der Nachmittagssonne.
Wohnen im KZ
Auf dem Rückweg über die zugigen Boulevards Neu-Belgrads fallen mir kurz vor der Brücke im Gestrüpp versteckte Ruinen und ein leerstehender Betonturm auf. In den 30er Jahren baute Jugoslawien hier ein Messegelände.
Kurz nach Eröffnung der Messehallen rollten deutsche Panzer durch Belgrad. Die Gestapo richtete auf dem Gelände Europas einziges Konzentrationslager in einer Gross-Stadt ein. Jüdische Häftlinge, politische Gefangene, Roma, Sinti und viele andere pferchten sie in die Gebäude. Von der Festung in der Altstadt aus sahen die Belgrader ihre eingesperrten und gequälten Angehörigen. Helfen konnten sie ihnen nicht.
Nach der Befreiung verfiel das Gelände. Heute leben in den halb verfallenen Bauten Flüchtlinge, die in den 90er Jahren aus Bosnien und anderen Kriegsgebieten gekommen waren.
Die Tür zum damals als Sendeturm errichteten Philipsturm steht offen. Drinnen liegen kreuz und quer alte Sessel, Sofas, Berge von Müll, dazwischen vergilbte Zeitungen und Magazine. Die Scheiben sind eingeschlagen. Künstler nutzten die Räume als Ateliers. Zuletzt hatten sich Obdachlose hier eine Bleibe geschaffen. Nur eine kleine Betonstele erinnert vor dem Grundstück an die Opfer der Verbrechen.
Am nächsten Tag komme ich mit der „i bike Belgrade“ Radtour wieder vorbei. Tourguide Dušan erklärt, warum die Einheimischen so wenig über die Geschichte dieses Ortes wissen. Auf Plänen ist das Gelände nicht eingezeichnet. Die Stadt wollte ein Einkaufszentrum bauen, was eine Bürgerinitiative verhindert habe.
70 Prozent der Belgrader seien Zugezogene. Wie Vanja und viele andere kamen sie als Kriegsflüchtlinge, vertriebene Serben aus jetzt kroatischen Gebieten, oder auf der Suche nach einem Job in die Hauptstadt.
eine typische Belgrader Geschichte
In einem Café vor dem Goethe-Institut an der mondänen Fussgängerzone Knez Mihaila erzählt mir Selman Trtovač eine typische Belgrader Geschichte: Seine Mutter stammt aus Dalmatien, der Vater ist muslmischer Serbe. Als Selman 1970 im heute kroatischen Zadar zur Welt kam, interessierten sich wenige für solche Details. Man war Jugoslawe. „Für nationalistische Propaganda gab es damals saftige Gefängnisstrafen“, erinnert sich der freischaffende Künstler in perfektem Deutsch.
Aufgewachsen in Belgrad studierte Selman in Düsseldorf Kunst bei Beuys-Nachfolger Klaus Rinke. Obwohl er in Deutschland sein Auskommen hatte, wagte er 2011 den Sprung ins Ungewisse. „Eine harte Entscheidung“, begleitet von „Zweifeln und Existenzangst“, die er nicht bereut. „Mich interessieren existenzielle Fragen, zerfallende Systeme und die Momente, in denen sich Werte neu sortieren“, sinniert der nachdenkliche Mann. So kehrte er nach Belgrad zurück, obwohl man „hier von Kunst nicht leben kann. Es gibt dafür keinen Markt.“
Selman mag „die Wärme der Leute, das Schnelle, Spontane, die Empathie – und den Schuss Chaos“, sagt er in überlegten Worten. „Die Menschen hören zu und helfen“. Plötzlich fragt er mich: „Kennen Sie das chinesische Zeichen für Krise?“ Ich verneine. „Es ist das Gleiche, das für Gefahr und Chance steht. So war damals die Situation hier.“ Selman fand eine Stelle in der Universitätsbibliothek und dann beim Goethe-Institut, wo man ihm hinter dem Schaufenster Platz für eine kleine Galerie schuf. „70.000 Passanten kommen hier täglich vorbei“, freut sich der Künstler.
Nach dieser und vielen anderen Belgrader Erfolgsgeschichten fallen mir die Worte von Vanja aus dem IRIS wieder ein. Der Koch und Restaurantgründer nannte die serbische Metropole „eine Spielwiese, auf der man viel Neues entwickeln kann“.
Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag hat die Nationale Tourismusorganisation Serbiens NTOS unterstützt. Auf die Inhalte hat sie keinen Einfluss genommen.
Info:
Serbien Tourist Info: www.serbien.travel
Belgrad Tourist Info am Flughafen und Kneza Mihaila 5 (Haupt-Fussgängerzone)
Top Tip: Zahlreiche Insider-Tips und Einblicke in die Alltagskultur der Einheimischen bieten die jungen Macher von „Use it“ in mehr als 40 europäischen Städten, darunter Belgrad. Für Serbiens Hauptstadt habe sie einen kostenlosen Stadtplan mit zahlreichen praktischen Tipps und Adressen im Programm
in Belgrad anschauen:
Sehenswürdigkeiten im Netz:
Festung Kalemegdan:
weitläufige Burganlage aus dem 15. Jahrhundert in einem großen park mit uralten Bäumen mit Blick über Save, Donau, Alt- und Neustadt, beliebter Aussichtspunkt vor allem wenn nach Sonnenuntergang die Lichter der Stadt angehen
Weltstadt-Flair in der Fussgängerzone Knez Mihailova mit lokalen Läden zwischen Filialen der internationalen Ketten in Bauten aus drei Jahrhunderten.
Skardarlija:
Obwohl bei Touristen beliebt eine gemütliche Ausgehmeile mit alten, typisch serbischen Lokalen wie dem Dva Jelena (Zwei Hirschen), in denen einheimische Bands alte serbische Lieder (zum mMittanzen und Mitsingen) spielen.
Savamala:
In den letzten Jahren haben in dem Viertel unter der Branko-Brücke von 1935 zwischen Innenstadt und der Save zahlreiche Designläden und ausgefallene Kneipen eröffnet. Nach und nach werden die teilweise heruntergekommenen Altbauten saniert. Mal schauen, was danach von ihrem Flair übrig bleibt.
Sankt Sava-Kirche:
weltweit zweitgrößte orthodoxe Kirche im byzantinischen Stil und Dauerbaustelle, die mit Geld des russischen Gazprom-Konzerns 2019 fertig werden soll.
Hotel und Café Moskva:
An einem Boulevard in bester Innenstadtlage liegt das 1908 innen und aussen im Stil der Russischen Secession eröffnete Luxus-Hotel und Café Moskva. Die Einrichtung ist weitgehend original erhalten oder so behutsam renoviert, dass man alt und neu nicht unterscheiden kann. Das Hotel gehört als einziges in Serbien zu den Historic Hotels Worldwide, Balkanska 1
Zemun: Einst Grenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie, heute ein Stadtteil Belgrads, in dem sich die Häuschen aus dem 17. und 18. Jahrhundert im Schatten einer der ältesten Kirchen des Landes an den Berg ducken, am Wochenende ein überlaufenes Ausflugsziel mit vielen Restaurants und Bootstouren-Angeboten an der Donau.
Museen:
Nikola Tesla Museum Die UNESCO hat das Archiv mit den Erfindungen des Wissenschaftlers in das Welterbe „Gedächtnis der Menschheit“ aufgenommen. Das Museum zeigt die Lebensgeschichte des Elektrotechnik-Pioniers. Es zischt und knackt laut, wenn die Gäste (unter Anleitung) Neonlampen mit elektrischer Hoch-Spannung in der Luft drahtlos zum Leuchten bringen, Krunska 51, , Di. – So. 10 – 20 Uhr
Jugoslawien-Museum: Rund um Titos Grab haben Staat und Stadt das Gelände seiner ehemaligen Residenz zum Museum der Geschichte Jugoslawiens umgebaut. In original aus den 60er Jahren erhaltenen Bauten präsentieren sie die vielen Geschenke, die Tito aus aller Welt erhalten hat und die zahlreichen kunstvoll gestalteten Stafetten mit Wünschen und Grüßen, die ihm die „Jugend Jugoslawiens“ jedes Jahr zum Geburtstag brachte. Schautafeln erzählen die Geschichte Jugoslawiens von seiner Gründung nach dem 1. Weltkrieg bis zum Ende in den 90er Jahren. Boticeva 6 (ca. 5 km südlich der Innenstadt, erreichbar mit Buslinie 40 und 41)
Baden und Chillen
Seit der Kosovo weg ist hat Serbien kein Meer mehr. Strände gibt es trotzdem, zum Beispiel am künstlich angelegten Ada-See. In den langen, heißen Sommern trifft sich hier die halbe Stadt zum Abkühlen. Füße ins Wasser, Cocktail an einer der zahlreichen Strandbars in der Hand. Ein weiterer Strand, der Lido, findet sich auf der – heute ganz friedlichen- „Großen Kriegsinsel“. Mitten in der Stadt sagen sich hier Wald und Vögel „Gute Nacht“. Ein paar Kilometer die Save hoch liegen an die 300 Hausboote. Die Leute wohnen in Ruhe auf dem Wasser. Die Liegeplätze sind knapp und begehrt.
organisierte Touren durch Belgrad:
Fahrrad-Touren und -Vermietung, Braće Krsmanović 5
Food- und Gastro-Touren: Serbien kulinarisch entdecken
Yugotours: Die Geschichte des Landes präsentiert Yugotours auf Stadtrundfahrten mit alten jugoslawischen Autos aus den 70er Jahren. Es geht u.a. zu den Repräsentationsbauten Jugoslawiens und in die Wohngebiete des Stadtteils Neu-Belgrad, der mit rund 450.000 Einwohnern wahrscheinlich größten Plattenbausiedlung Europas, erbaut von Anfang der 50er bis Mitte der 80er Jahre, Braće Krsmanović 5
Guiding Architects Architektur-Führungen von Experten
Essen, Trinken, Feiern in Belgrad:
Nach Jahren des Stillstands ist Belgrad zur Gründerstadt geworden. Überall eröffnen neue Bars, Clubs, Restaurants und Kneipen. Junge Leute richten ihre neuen Läden oft in für Außenstehende kaum auffindbaren Wohnungen ein:
Angesagt ist die neue Balkanküche New Balkan Cuisine: Wieder entdeckte regionale Spezialitäten modern und leicht aufbereitet:
Ambar Restaurant, Karadordeva 2-4
In einer mit rohen Holzmöbeln vor bewusst weiss gelassenen Wänden gestalteten Wohnung serviert das IRIS neue Balkanküche. Gründer Vanja Puskar (31) fährt selbst über die Dörfer, um alte Frauen nach ihren Rezepten zu fragen und zu den Kleinbauern, die ihm direkt frisches Gemüse, Obst, Fleisch und mehr liefern, Sarajevska 54
Stylisch im elementaren Ambiente einer Altbauwohnung mit idyllischem Garten hinter dem Haus bietet das Radost vegetarische und vegane Gerichte aus regionalen Zutaten, Radost Fina Kuhinjica, Pariska 3
Auch traditionelle Kafánas, eine Mischung aus Kaffeehaus, Restaurant und Kneipe sind wieder gefragt, zum Beispiel die Teatroteka mit seinem Biergarten unter alten Bäumen in einem Hinterhof, Gospodar Jevremova 19
Eine der ältesten Belgrader Kafanas findet sich gegenüber der Hauptkirche in der Altstadt, die gerade komplett renoviert wird. Nachteil: Weil so viele Touristen kommen ist die original von 1825 erhaltene, denkmalgeschützte Stube oft voll. Das traditionelle serbische Essen ist nicht billig. ? (So heisst das Lokal), Kralja Petra 6, als Kafana Question Mark auf Tripadvisor
Unter der 1935 erbauten Branko-Brücke liegt in einem uralt-Bau im Stadtteil Savamala das Kulturzentrum KCGrad. Im ersten Stock bietet das Grad Konzerte, Theateraufführungen und Diskussionsveranstaltungen. Auch politische Gruppen treffen sich dort. Unter bunten Lampen kann man im Innenhof draußen sitzen, Braće Krsmanović 4
Im einst türkischen Viertel an der Donau, heute ein beliebtes Wohn- und Ausgehrevier, hat in Fabrik- und Werkstatthallen eines Gewerbegebiets das Kulturzentrum Dorćol Platz eröffnet: Kneipen, Ausstellungen, Konzerte, Theater und mehr, Dobračina 59b
Chillton: In einer Seitenstraße des sonst eher ruhigen und teureren Wohnviertels Vracar haben ein paar junge Leute ihr Hostel mit einem gemütlichen Club ergänzt: In den Zimmern einer ehemaligen Wohnung sitzen die Gäste auf alten Sofas und Stühlen. Die alten Holztüren und die pastellfarben gestrichenen Wände tauchen die Wohnung ins Ambiente einer Berliner WG der frühen 80er Jahre. An der Bar gibt es günstige Getränke, in einem Raum einen Billiardtisch, Katanićeva 7
Magazin für Nachtleben, Kultur und Feiern www.beogradnocu.com/en/ und https://belgradeatnight.com/
Shoppen in Belgrad:
In die Läden eines pleite gegangenen Einkaufszentrum aus den 70er Jahren sind zahlreiche junge Belgrader Designer gezogen: Sie verkaufen hier Schmuck, ausgefallene Mode, Deko und mehr.
Lesen:
Online-Magazin für Nachleben, Design, Clubbing, Essen, Trinken, Musik, Kultur, Street Art, thematische Stadtführungen und mehr
Apartments in Belgrad und Stadt-Infos:
Geld:
Bezahlt wird mit serbischen Dinar (RSD). Für einen Euro bekommt man etwas mehr als 100 RSD. Wechselstuben haben normalerweise einen besseren Kurs als Banken. Geldautomaten spucken auch RSD aus. Man sollte aber die Summe in RSD und nicht in anderen Währungen eingeben, sonst wird es teuer. Das Leben in Serbien ist deutlich günstiger als in Mitteleuropa. Ein Kaffee in einer normalen Kneipe kostet höchstens einen Euro (oft weniger). Gut, reichlich und lecker essen kann man schon für umgerechnet 5 Euro. Lokale in der Innenstadt und in Touristengegenden sind etwas teurer.
Verkehr in Belgrad:
Belgrad ist chronisch verstopft, Busse und Trams vor allem zu Stosszeiten brechend voll. Fahrkarten gibt es nicht mehr. Stattdessen kauft man an einem Kiosk (gibt es in der Innenstadt an jeder Ecke) eine Plastikkarte und lässt sie aufladen. Eine Tram- oder Busfahrt kostet 89 RSD. Die Karte hält man zum bezahlen an das gelbe Lesegerät im Fahrzeug: Viele Waggons stammen aus den 70er und 80er Jahren. Die rot-gelben Bahnen der Linie 11 hat die Stadt Basel den Belgradern geschenkt. So fährt immer noch ein Stück alte Schweiz durch die serbische Metropole. Taxis sind relativ günstig (nachts etwa 1 SFr. / km), aber viele fahren illegal und zocken Touristen ab. Sicher ist, wer ein offiziell registriertes Taxi ruft oder auf der Strasse anhält und darauf achtet, dass das Taxameter mitläuft. Es startet immer bei 170 RSD. In der Ankunftshalle des Flughafens kauft man am besten einen offiziellen Taxi-Gutschein und zahlt damit die Fahrt in die Stadt oder man nimmt den Bus (Linie A1, ca. 1 Stunde oder Stadtbus 72, noch langsamer, aber billiger).
Telefonieren:
Wie überall haben die meisten (jungen) Serben ständig ihr Handy am Ohr oder vor der Nase. Sim-Karten gibt es an den Kiosken und in den zahlreichen Handy-Läden ab 300 RSD. Günstig (Stand Okt. 2017): 7-Tage mit 4GB Internet und 50 Frei-Minuten in alle Netze von VIP für nochmal 300 RSD.
Film:
In den 70er Jahren baute Jugoslawien eine eigene Filmindustrie auf. Man lockte westliche Filmproduktionen ins Land, um Devisen einzunehmen und nutzte das Know How für die Produktion zahlreicher eigener Streifen. Ähnlich der Cinecittá in Rom entstand eine Filmstadt außerhalb von Belgrad. Filmfans kommen in der Kinoteka, einem der bestsortierten Filmarchive auf ihre Kosten. Dort laufen Kinofilme aus jugoslawischer und ausländischer Produktion (im Original mit serbischen Untertiteln) zu unschlagbaren Eintrittspreisen, Jugoslavenska Kinoteka und Museum, Kosovska 11