Rabat/ Frankfurt/M. Am Gate ist niemand zu sehen. Still warten die Passagiere auf den Flug AT 811. Eine Stunde ist der Flieger schon überfällig. Ein junger Bundespolizist in schusssicherer Weste lässt mich wissen, dass die Maschine aus Casablanca verspätet eintreffe.
Plötzlich geht alles ganz schnell. Das Gate öffnet. Die Leute gehen zum Flugzeug, das anscheinend in Rekordzeit gereinigt und aufgetankt wurde.
Im Gang erzählt mir eine Frau wütend von ihrem letzten Fug nach Marokko: „Ich dachte, die bringen den Flieger gleich zum Absturz“, schimpft sie über junge Männer, die an Bord herumgeschrieen, randaliert und Mit-Passagiere bespuckt hätten. „Jetzt sind auch wieder Flüchtlinge an Bord, die abgeschoben werden“, zetert sie. Es sei doch eine Unverschämtheit, wie die sich aufführen und dass die Passagiere nicht informiert würden. Mir dämmert, dass Deutschland abgelehnte Asylbewerber und andere „Ausreisepflichtige“ mit regulären Linienflügen außer Landes schafft.

Bewachter Passagier in Handschellen
Einen Moment überlege ich, ob ich auf den Flug verzichte. Schließlich siegt meine Neugier. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ein Journalist darüber berichtet, was auf solchen Flügen passiert. Beim Einsteigen frage ich den Steward, einen kleinen älteren Herren, der jeden Passagier mit einer angedeuteten Verbeugung begrüsst: „Ja, mein Herr, das ist legal“, erklärt er mir überfreundlich und versichert, dass jeder Flüchtling an Bord von drei deutschen Polizisten begleitet werde. Es gebe keinen Grund zur Sorge.
Im Flieger bleibt es still. Der Pilot bittet um Entschuldigung für die Verspätung „wegen starken Windes in Casablanca und Frankfurt“. Hier zumindest sehe ich nichts von einem Sturm.
Nach dem Start mache ich mich auf den Weg zur Toilette hinter der letzten Reihe. Zwischen den anderen Passagieren sehe ich einen verschreckt dreinblickenden jungen Mann. An seinen Handgelenken glitzern silberfarbene Handschellen. Neben ihm sitzt ein stämmiger Mann um die 30, kurze blonde Haare. Er erwidert irritiert meinen Blick auf die Handschellen als wolle er sagen: „Das geht Dich nichts an.“ Wahrscheinlich ist es der Polizist, der auf den „Schübling“ aufpasst.
Später erfahre ich von der Pressestelle der deutschen Bundespolizei dass man „aus einsatztaktischen Gründen“ man nicht über Zwischenfälle in Flugzeugen während solcher Abschiebungen berichte.
Sicherheit des Fluges in Gefahr
Piloten dürfen Mitnahme von Abzuschiebenden nur verweigern dürfen, wenn sie die Sicherheit des Fluges gefährdet sehen. Deutschlandweit sei dies von Januar bis September 2017 schon 222 Mal passiert. Einem Magazin erzählt eine Pilotin, dass sich die meisten Besatzungen inzwischen an die Abschiebungen gewöhnt hätten. Selten gebe es deshalb Proteste. „Der Staat sei für die Fluggesellschaften „ein viel zu guter Kunde“.
Ich frage mich, wie sich der junge Mann in Handschellen fühlen mag. Nach der Landung steigen die beiden als letzte aus. Ich verliere sie aus den Augen und mache mich nach der Passkontrolle auf die Suche nach dem Bahnhof. Am Übergang kontrollieren Polizisten das Gepäck genau so gründlich wie auf dem Weg zu den Flugsteigen.
Übers Internet hatte ich mir für meine Entdeckungsreise nach Rabat ein Zimmer in der deutlich günstigeren Nachbarstadt Salé gebucht. Françoise, eine Bretonin, hat das alte Riyad, ein historisches, um einen Innenhof gebautes Altstadthaus, gekauft und restauriert.
Weit nach Mitternacht rollt der fast menschenleere Zug pünktlich im modernen Beton- und Glasbahnhof von Salé ein. Die Läden und Cafés in der Halle sind längst geschlossen. Die vierspurige Durchgangsstrasse vor dem Bahnhof liegt verlassen im fahlgelben Licht der Straßenlaternen.
Ein verstecktes Reich hinter einer kleinen Tür

Übers Handy lotst mich Gastgeberin Françoise entlang der Stadtmauer auf einen menschenleeren Platz. Ich höre nur das Klackern meiner Kofferrollen auf dem löchrigen Asphalt. Zum Glück holt Françoise mich ab. Ich hätte die rostrote kleine Tür in einer fensterlosen, dunkelgrauen Wand nie gefunden.
Durch einen kurzen schmalen Gang gelangen wir in ihr Reich. Marokkos Riyads sind von aussen kaum zu erkennen. Oft haben sie keine oder nur winzige Fenster zur Straße. Der abgewinkelte Gang schützt vor allem die Bewohnerinnen vor fremden Blicken. Drinnen gehen von einem mit bemalten Fliesen gekachelten Innenhof auf zwei Etagen die Zimmer ab. Licht bekommen sie vom Hof. Schliesst man die dunklen, schweren Holztüren, ist es dunkel.
Am nächsten Morgen blinzle ich in die Sonne, die auf meine Zimmertür scheint. Ich wohne ganz oben, über mir nur der leuchtend blaue marokkanische Himmel. Unten sitzen schon zwei junge Deutsche beim Frühstück. Sie starten gerade ihre Rundreise durch Marokko. Françoise tischt in Tontöpfchen ein Dutzend verschiedene Marmeladen auf. Sie schmecken nach Feige, Kastanien, Orangen. Dazu gibt es Baguette und frischen Kaffee.

Städte erschliesse ich mir langsam: erste vorsichtige Schritte vor die Haustür, Riechen, Hören, Sehen. Ich folge der Gasse vor der schweren Eisentür des Riyads vorbei an kleinen Läden und Werkstätten, in denen Männer auf Kundschaft hoffen. Die meisten tragen die traditionellen marokkanischen Djellabahs, eine Art Ganzkörper-Mantel oder Kaftan in Blau, Beige oder Braun, zumeist aus Wolle. Viele mustern mich mit neugierigen, manchmal auch misstrauischen Blicken. Meine Kamera halte ich eng am Körper. Mir scheint, dass sie lieber nicht fotografiert werden. Touristen finden selten den Weg hier her. Die Armut vieler Altstadtbewohner erschreckt mich. Sie verwarten die Tage in ihren Kaschemmen oder auf der Strasse. Bettler hoffen mit einem Pappbecher in der Hand auf eine Gabe.
Frei, aber keiner hört zu

Marokkos Altstädte, die Medinas, sind wie hier in Salé eine Mischung aus Markt und Ladenstraßen. Alte Männer stehen an Karren, auf die sie Obst und Gemüse gestapelt haben: Orangen, Mandarinen, Minze, Gewürze. Nach zehn Minuten passiere ich ein Tor auf der anderen Seite der Medina. Vor einem Betonbau stehen Männer und Frauen singend in einem Kreis. Sie rufen Parolen auf Arabisch. „Ville de Salé“ steht über dem Eingang hinter ihnen. Es ist das Rathaus. Angestellte drängen sich an den Protestierenden vorbei, ohne sie zu beachten. Ich frage einige auf Französisch, worum es gehe. Die meisten sind einfache Leute, die mich nicht verstehen. Schließlich finde ich eine Frau in der Runde, die ihre Haare offen trägt. Sie erklärt mir, dass sie alle arbeitslos seien und von der Stadt Jobs verlangen. Aus dem Rathaus kommt keine Reaktion. Marokkos Bürokratie lässt die Leute demonstrieren – und ignoriert sie. Ähnliches erlebe ich wenige Tage später vor dem Parlament in Rabat, wo Journalisten gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die Kommerzialisierung der Medien demonstrieren. Gesendet und gedruckt wird, was Geld bringt. Man lässt die Protestierenden stehen. Keine Polizei, keine Absperrungen. Niemand reagiert.

Hinter dem Rathaus gerate ich in eine verlassenen Mondlandschaft. Von der Jahrhunderte alten Stadtmauer aus getrocknetem Lehm erstreckt sich ein Meer aus Gräbern bis zum in der Sonne glitzernden Ozean. Etwas weiter südlich mündet der Bou Regreg in den Atlantik.

Ich folge dem Flusslauf in ein noch unbewohntes Neubaugebiet. Der Eagle Hills Konzern aus Abu Dhabi verkauft hier Luxuswohnungen am Wasser. „Quai des Créateurs“, Kai der Kreativen, steht in eisernen Buchstaben über der nagelneuen Uferpromenade.
Vereinzelt sitzen junge Leute auf den Stühlen, die erste Cafés auf die Strasse gestellt haben: Pioniere einer Zukunft, die der König seinem Land verordnet hat: das „neue Marokko“, modern, weltoffen, jung, wirtschaftlich erfolgreich und voller Zuversicht. In den neuen Apartmenthäusern haben „Kreative“ ihre Läden eröffnet: Möbel- und Mode-Designer, Galeristen. Ziyad Nourredine, ein freundlicher, feinsinniger Herr Anfang 60, gibt in seiner Galerie Malkurse. Eine ältere Dame arbeitet konzentriert an ihrem Landschaftsbild. Die vier, fünf Meter hohen, weißen Wände hängen voll mit bunten Gemälden. Werke, die dort keinen Platz mehr finden, stehen auf dem hellen Holz-Fussboden. Für ein Jahr hat der Maler, Künstler und Galerist den Laden gemietet. „Für die 3500 Euro muss ich jeden Monat fünf bis sechs Bilder verkaufen“, klagt er über die für marokkanische Verhältnisse horrenden Kosten. Trotz der teuren Mieten am Kai der Kreativen strahlt der Künstler Optimismus aus. Die Kunst fange allmählich an, sich in Marokko zu demokratisieren. „Der Markt ist klein, aber er wächst“.
Luxus hinter Slum am Fluss

Wenige Schritte vor Nourredines farbenfroher Insel der Zuversicht treibt der Wind leere Plastikflaschen und -tüten über den staubigen Streifen Brachland am Fluss. Zwischen Behausungen aus Folien, Holzresten, alten Decken und Müll führt ein Trampelpfad ans Ufer. Ein Junge in einem schmutzigen, dunklen Trainingsanzug beobachtet neugierig meine Schritte. Wahrscheinlich wohnt er in einer der Hütten. Leider versteht er meine Frage nach den Booten nicht, die Passanten ans andere Ufer bringen. So folge ich einem Mann, der kurz auf Arabisch mit einem der Bootsbesitzer spricht und auf eines der blau-weiß-grünen Holzboote steigt. Ein kräftiger Typ um die 50 winkt mich an Bord. Er stellt sich in die Mitte und rudert los.

Keine zehn Minuten dauert die Überfahrt in Marokkos Hauptstadt, eine der sieben Königsstädte des Landes. Vom nahen Ozean weht frische salzige Luft den Fluss herauf. Das Blau des Wassers, der Boote und des klaren Himmels leuchtet in der hellen Vormittagssonne. Wortlos legt der Ruderer drüben an und streckt mir seine Hand entgegen. Drei Dirham, rund 30 Cent, kostet die Überfahrt, halb so viel wie eine Strassenbahn-Fahrkarte.
Am Steg sortieren Fischer ihre Netze. Unser Bootsmann fährt alleine zurück nach Salé. Keine Kundschaft. Mich lockt die Kasbah des Oudaias: ein Haufen weißer Häuser, der auf einem Hügel am Ende der neuen Promenade hinter einem zinnenbewehrten alten Stadttor thront. Ein paar versprengte Touristen, darunter marokkanische Familien mit ihren Kindern, flanieren durch die höchstens zwei Meter schmalen autofreien Gassen zwischen den blau und weiss gestrichenen andalusischen Häuschen.
An einer der Strassen hat sich ein alter Mann auf einer Matratze niedergelassen. Er spielt auf einer Art Laute und dreht dazu seinen Kopf, bis der blaue Bommel seiner bestickten Mütze im Rhythmus der Musik um sein Haupt kreist.
Die mystischen Klänge der Wüste

Außer mir interessiert sich niemand für dem Gnawa-Musiker. Seine mystischen Klänge stammen wie der dunkelhäutige Mann mit dem faltenzerfurchten Gesicht aus der Wüste im Süden Marokkos. Für die Münzen, die ich ihm in sein Körbchen lege bedankt er sich mit einem Lächeln, einer Zugabe und ein paar Extra-Runde seines Bommels.

Der Himmel beschenkt Rabat mit einem klaren Licht, das die Farben zum Leuchten bringt. Am Eingang zur Altstadt schimmert die alte Lehmmauer in einer Mischung aus Gold, Beige und Hellbraun in der Abendsonne.
Alle paar Minuten gleitet das 21. Jahrhundert an der archaischen Altstadt-Welt mit ihren Gemüseständen, Werkstätten, Mini-Läden, Bettlern, Händlern und anderen Überlebenskünstlern entlang: Von Nord nach Süd verbindet die silbrig glänzende neue Niederflurtram die vielen Welten der marokkanischen Hauptstadt: Die Altstadt, das in die Jahre gekommene Geschäftsviertel Hassan II, die vor gut 100 Jahren von den Franzosen als Vision der Moderne errichtete Neustadt mit ihren blütenweissen Art-Deco-Fassaden, dem schicken Neubauviertel Agdale, dem Königspalast und der tief religiösen Nachbarstadt Salé.

Überleben, wie auch immer
Vor dem Zentralmarkt am Altstadttor Bab Chellah warten junge Männer auf Kunden für ihre Sonnenbrillen, nachgemachten Markenklamotten und allerlei Tand, den sie auf dem Bürgersteig ausgebreitet haben. Andere verkaufen Obst, Gemüse oder marokkanisches Fastfood: Auf mobilen Grills gebratene Merguez-Würstchen, Fleischklopse mit Salat und einer undefinierbaren Soße. Den Imbiss werde ich in der kommenden Nacht noch bereuen. Bis weit in den nächsten Tag verfluche ich ihn für den Brechdurchfall, den ich mir vermutlich hier eingefangen habe. Dabei hatte ich auf das Grünzeug verzichtet und genau darauf geachtet, dass der Verkäufer die Würstchen gründlich durchgrillt. Ich will nur noch nach Hause.
Nicht nur solche Erfahrungen erinnern mich – bei allem Ärger über deutsche Wohlstands-Selbstgefälligkeit – daran, dass die meisten von uns in Mitteleuropa auf einer Insel der Glückseligen leben.

Falscher Guide in der Totenstadt
Ich denke an den jungen Mann in der Totenstadt Chellah, der sich auf jeden der wenigen Touristen stürzt, die Geschichte der Ruinen aus römischer und altislamischer Zeit referiert, den Weg zeigt und Besuchern gar nicht die Chance lässt, seine Dienste zurück zu weisen. Obwohl er fließend Französisch spricht, studiert habe und so viel weiss, schlägt er sich wie viele Marokkaner mit Gelegenheitsjobs und als „Faux Guide“, als falscher Touristenführer durch. Er spricht Ausländer an, zeigt ihnen den Ort, liefert Erklärungen und verlangt hinterher ein happiges Sümmchen Geld. Obwohl ich keine Lust auf seine Führung hatte, gebe ich ihm nachdem kurzen Rundgang 60 Dirham, rund sechs Euro und ernte seinen Zorn. Mindestens 100 seien für seine Dienste doch nicht zu viel verlangt, 10 Euro. Mit schlechtem Gewissen und einem unguten Gefühl über das rechte Mass bleibe ich hart, bis er schimpfend aufgibt und sich neue „Kundschaft“ sucht.
Auch in Salé bin ich an der Großen Moschee an einen solchen falschen Guide geraten. Ein älterer Herr, der mich in ein freundliches Gespräch verwickelt, anfängt, mir von der großen Moschee der Meriniden, der alten Koranschule aus dem 13. Jahrhundert und dem vielen Gräbern auf dem nahen Friedhof zu erzählen. Ich hätte doch nichts dagegen, dass er mich ein bisschen begleitet. Die Tour endet vor dem Eingang zur ehemaligen Medersa ebenso wie die in der Chellah.
Ghettoblaster vor der historischen Koranschule
Vor der original erhaltenen ehemaligen Koranschule hantiert ein stämmiger junger Mann Mitte 20 mit einer großen Kamera. Er filmt ein paar junge Kerle, die immer wieder die Gasse heraufkommen, bis die Szene endlich sitzt. Dazu tönt aus dem Ghettoblaster eine Rap-Ballade. Adrch’man ist Lehrer und betreibt mit seiner Ausrüstung eine kleine Produktionsfirma: „Werbeclips, Musikvideos“, erklärt er mir beiläufig, während er die letzten Aufnahmen auf seinem Laptop prüft. „Hier helfe ich meinen Freunden“.

Die Jugend macht sich ihre Hoffnung selbst
Dris ist einer von ihnen, ein schlacksiger junge mit nach hinten gegeelten schwarzen Haaren. Dazu trägt er T-Shirt, löchrige Jeans und eine verspiegelte Sonnenbrille. Er hat das Lied geschrieben und spielt jetzt die Hauptrolle in dem Musikclip: „Ich sehe sie, sie sieht mich, ich verliebe mich“. Liebe auf den ersten Blick. In der letzten Szene wacht Driss auf. War es alles nur ein Traum?
Seine Angebetete heisst Melek, eine marokkanische Schönheit mit dunklen Augen. Ihr langes offenes Haar fällt über ihren blutroten Djellabah. Im Film spielt sie „la fille du quartier“, das Mädchen aus dem Viertel. Sie geht auf den Markt. „Da begegne ich ihm wieder. Ein Augenaufschlag ….“, erzählt die 18jährige.
Sie will nach der Schule „etwas mit Architektur und Dekoration machen, vielleicht auch „Model werden.“ Die junge Frau gibt sich zuversichtlich. Sie werde etwas finden.

Träume von Liebe und Zukunft
Die Jungs sind skeptischer. „Wenn Du hier etwas werden willst, brauchst Du vor allem Beziehungen“, schimpft einer von ihnen. Er will nach Europa, Frankreich oder Deutschland, weil man „dort mehr Möglichkeiten hat“. Auch Nacim, der Wirtschaftsstudent, der Model werden möchte, träumt vom „besseren Leben“ in Europa. Sein Freund Wallid will bleiben. „In Marokko kannst Du so viel machen.“ Am Set kümmert er sich um das richtige Outfit für die jungen Darsteller. „Wenn Du in Europa als Stylist arbeiten willst, brauchst Du eine Ausbildung. Hier nicht“, weiss der 20jährige. „Ich bin zufrieden, Hamdullah, Gott sei Dank“. Als Stylist verdient er zu wenig, um davon zu leben. Deshalb verkauft der junge Mann nebenbei Uhren, Sonnenbrillen und andere Accessoires. Jedenfalls „kommt er klar, Insh’Allah“, so Gott es will.
Ein typisch marokkanischer Satz, den Wirtin Françoise besonders liebt. Geschichten hat sie reichlich auf Lager, zum Beispiel die des Installateurs, der wochenlang versucht hat, einen Wasserrohrbruch in ihrem Riyad zu beheben. Immer wieder kam er mit seinem Gehilfen, buddelte ein Loch, riss die Gasse vor dem Haus auf und verschwand. Er werde eine Lösung finden und wieder kommen, Insh’Allah, wenn Gott es wolle. Irgendwann hatte sie die Nase voll: „Ab jetzt gilt Insh’Françoise und die will, dass Du morgen wieder hier bist.“ Er kam tatsächlich und fand das Leck im Wasserrohr.

5 x 6 = 24
Mehr als zehn Jahre nachdem sie nach Marokko kam, „um ein neues Leben anzufangen“, verzweifelt sie an diesem Land, das sie gleichzeitig so fasziniert. Sie bewundert, „wie gelassen die Menschen hier dem Tod begegnen“, wie zufrieden so viele auf sie wirken und wie relativ die Zeit sei. „Die Europäer haben die Uhr, wir die Zeit“, heisst es auch in Marokko – was Françoise manchmal fast in den Wahnsinn treibt. Stunden verbrachte sie auf einer Amtsstube, weil sie ein paar Steuermarken vorlegen sollte. Die gab es erst nur beim Händler um die Ecke, der keine hatte, dann wieder auf dem Amt, wo niemand sie fand. Für fünf mal sechs Erklärungen brauche sie 24 Marken, beschied ihr die Beamtin. Als sie die 24 Aufkleber zusammen hatte, waren es natürlich zu wenig. Das Spiel begann von Neuem. Erst als Françoise sich weigerte, das Büro ohne die restlichen Marken zu verlassen, tauchten in einer Schublade plötzlich welche auf.
Realsatire Bürokratie
Kabarettreif erzählt die wortgewaltige Bretonin, wie sie auf einem Amt nach langer Wartezeit ein Formular bekam, dieses aber vor Ort nicht ausfüllen durfte. Zum Abgeben solle sie einen neuen Termin vereinbaren. Sie weigerte sich, blieb und setzte sich durch. „Das sind die die Leute hier nicht gewöhnt“, erzählt die resolute Gastgeberin, die ihre „Arbeit liebt“, obwohl so viele ihr das Leben mühsam machen. Die Korruption bestimme immer noch den Alltag. So habe jeder jeden in der Hand und keine traue sich, den Mund auf zu machen.
Salés große, reiche Schwester Rabat gibt sich weltstädtisch. Die Stadt will sich mit internationalen Festivals auf der touristischen Landkarte verankern, pflegt ihre vielen Parks und die Kultur. Das Museum für moderne Kunst Mohammed VI, ein 2014 im arabischen Stil errichteter Neubau mit hellen, klimatisierten Räumen habe ich an einem Donnerstag fast für mich alleine. Nur eine marokkanische Kleinfamilie, Frau und Tochter wohl verhüllt und bedeckt, erschliesst sich vorsichtig die Welt moderner Kunstwerke aus Afrika und Europa.

Geld und Vertrauen
Nach einer Tour durch die Neustadt mit ihren Museen, blütenweißen Verwaltungsbauten aus der Kolonialzeit und den feinen Cafés am palmenbestandenen Boulevard Mohammed V zieht es mich wieder Richtung Altstadt. Mitten im Geschäftsviertel zwischen Medina und dem französischen Viertel wundere ich mich über mehrere Blocks lange Menschenschlangen in der Dunkelheit. Die Leute warten regungslos bestimmt eine Stunde lang, ohne dass sich etwas bewegt. Ich frage den Kellner, der mir gerade meinen Minztee bringt. Er zuckt mit den Schultern und meint „vielleicht warten sie auf ein Taxi oder den Bus“. Die Strasse ist allerdings so eng, dass kein Bus hier durch käme. Und Taxen sind weit und breit nicht zu sehen. Auch der Gemüsehändler, an dessen Karren ich mir ein paar Mandarinen kaufe, weiss keine Antwort auf meine Frage. Dafür gibt er mir den Glauben an das Gute wieder. Beim Bezahlen ist mir unbemerkt ein 50 Dirham-Schein aus der Tasche gefallen. Der Händler, ein alter Mann, dem das Gehen schwer fällt, kommt um seinen Karren geeilt, hebt den Schein auf und gibt ihn mir. Sprachlos schaue ich ihn an. Bevor mir ein Dankeswort einfällt erwidert er. „Ja Monsieur, das Vertrauen in die Menschen ist sehr wichtig, wichtiger als das Geld.“
Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde teilweise (Flug) unterstützt von Visit Marocco.
Eine Auswahl meiner schwarz-weiss-Fotos findet Ihr / finden Sie hier.

Rabat Info:
Marokkanisches Fremdenverkehrsamt
Tourist-Info Rabat, 22 Rue d’Alger im Stadtteil Hassan
Anreise:
Flüge aus Deutschland, Österreich und der Schweiz z.B. nach Casablanca, von dort geht es im Stundentakt mit dem Zug über Casa Port oder Casa Voyageurs (umsteigen) in knapp 2 Stunden nach Rabat und Salé. Die marokkanische Bahn fährt erstaunlich pünktlich und zuverlässig. Airfrance-KLM und einige andere Airlines fliegen von ZRH und FRA über Paris CDG auch nach Rabat (RBA).
Anschauen:
Rabat, Hauptstadt Marokkos seit 1912, versteht sich als Schaufenster des Königreichs und als „moderne, grüne Stadt, die ihr Erbe pflegt“. Die UNESCO hat sieben Orte in der Stadt in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.

Chellah:
Östlich der Innenstadt liegt ein von einer wuchtigen Mauer umfasster, verwunschener, von Störchen und wilden Katzen bewohnter Park: die Chellah, eine 7 Hektar große Totenstadt aus dem 13. und 14. Jahrhundert, umgeben von den Überresten der römischen Siedlung Sala Colonia. Im Wasser einer aufgestauten heiligen Quelle leben (angeblich) Aale. Frauen füttern die Fische mit Eiern und werfen Geld in das Wasserbecken, damit sie viele Kinder bekommen, Ave. Moussa Ibn Noussair, tgl. 10-17h

Hassan-Turm:
Der kantige Turm mit den arabesken Verzierungen überragt als Wahrzeichen Rabats das gleichnamige teure Stadtviertel Hassan (das ihm seinen Namen gab). Im zwölften Jahrhundert sollte hier die größte Moschee der islamischen Welt entstehen, doch ihr Bauherr schaffte zu Lebzeiten nur das 44 Meter hohe Minarett. In Schatten des Turms ruhen in einem Mausoleum aus weißem italienischem Marmor, gesäumt von 312 Säulen, Mohammed der V. und sein Sohn Hassan II, die beiden ersten Könige des 1956 wieder unabhängig gewordenen Marokko. Das Grab Mohammed des V. wurde aus einem weisse Onyx-Stein geschlagen, tgl. 9-18 Uhr

Königspalast (Dâr al Mahkzen):
Mehr als 2000 Menschen wohnen und arbeiten nach offiziellen Angaben auf dem königlichen, von einer Lehmmauer mit Zinnen umfassten Gelände. Touristen dürfen Teile des Areals besichtigen. Rücksäcke und Taschen müssen as Sicherheitsgründen draussen bleiben.

Kasbah des Oudaias:
In zartem blau und blütenweiss thront die im 12. Jahrhundert errichtete Burg-Siedlung über der Mündung des Bou Rereg in den Atlantik. Die aufgeräumten Gassen mit ihren kleinen Läden, Galerien und Ateliers erinnern an europäische Altstädte am Mittelmeer. Das Museum der Oudaias zeigt vor allem Handwerkskunst marokkanischer Silber- und Goldschmiede, tgl. 9 bis 20h für Touristen geöffnet
Zu Füssen der Kasbah liegt im andalusischen Garten -ein Park mit Oleander-Bäumen, Yuccapalmen und Hibiskushecken – das bei Einheimischen und Touristen wegen des Meerblicks und dem Ambiente der 1920er Jahre beliebte Café Maure. Formvollendet servieren hier die Kellner auf Silbertabletts Kaffee und den klebrig-süßen marokkanischen Minztee.
Medina (Altstadt):

Gegenüber der Kasbah liegt Rabats weitläufige Medina, ein Gassenlabyrinth mit ungezählten Geschäften, winzigen Werkstätten, Cafés, Gemüseständen, Handyläden und mehr. Viele Bettler erinnern daran, dass längst nicht alle Marokkaner von Wirtschaftsaufschwung der Hauptstadtregion profitieren. Der untere, östliche Teil der Altstadt war – bis zur Auswanderung der meisten marokkanischen Juden nach dem israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg 1967 – das jüdische Viertel, die Mellah. Gebaut haben die Altstadt mit ihrer zinnenbestückten Mauer aus Lehm die so genannten Morisken: im 17. Jahrhundert aus Andalusien vertriebene Muslime und Juden. Die beiden Stadttore Bab Lâalou und Bad El Had zählen zum Weltkulturerbe.
An der teilweise überdachten Strasse der Konsulen (Rue des Consuls) haben sich die Ledermacher und zahlreiche Teppichhändler angesiedelt. Früher residierten hier die meisten diplomatischen Vertretungen. Am Ende der Strasse lag der Sklavenmarkt, wo die Botschafter ihre von Piraten entführten Landsleute freikaufen konnten.
Am Ostrand der Altstadt findet sich am Bab Chellah und der gleichnamigen Strassenbahnstation der Zentralmarkt.

Neustadt:
Entlang dem palmengesäumten Boulevard Mohammed V, der die Altstadt mit dem Königspalast verbindet, haben die französischen Kolonialherren vor gut 100 Jahren ihre Stadt gebaut: blütenweisse Verwaltungsbauten, Banken, Versicherungen, mondäne Cafés, Hotels, Kinos, das marokkanische Parlament, die Hauptpost und den ebenfalls leuchtend weiss verputzten Hauptbahnhof Gare Rabat Ville. Hier und in den Seitenstrassen findet man sehr viele gut erhaltene Art Déco Fassaden.

Stadt des Wissens:
Am südlichen Ende der Straßenbahnlinie 1 hat sich die Stadt des Wissens (Medinat al Irfane) angesiedelt, ein moderner Hochschulcampus mit mehreren Universitäten, Instituten, Studierendenwohnheimen, Cafés und Restaurants.

Parks:
Rabat nennt sich gerne „Die grüne Stadt“ Nach offiziellen Angaben gibt es 230 Hektar Grünfläche und auf 133.000 Hektar den Korkeichen-Wald Mâamora zwischen Rabat und Kénitra.

Museen:
Seit 2014 präsentiert das neu gebaute Museum Mohammed VI moderne Kunst, darunter viele afrikanische Werke, die in Europa kaum zu sehen sind, Ave. Allal Ben Abdallah
Die Villa des Arts, eine 1929 in einem Park erbaute Art Déco Residenz, beherbergt wechselnde Kunstausstellungen, Ave. Mohammed VI Ecke Rue Béni Mellal, Di. – So. 9h30 – 19h
Das Archäologische Museum zeigt zahlreiche Ausgrabungsstücke aus vor-islamischer Zeit u.a. aus römischen Siedlungen, 23, rue E Brihi.
Das Museum Dar Belghazi erzählt die Geschichte der vielen Kulturen, die im heutigen Marokko ihre Spuren hinterlassen haben: Karthager, Römer, Berber, Araber, Juden, Andalusier und viele weitere.

Salé
Jenseits des Flusses Bou Regreg liegt die ältere, ärmere und oft übersehene Schwester Rabats: Salé. Ein Ausflug lohnt sich schon wegen der entspannten Überfahrt. Statt mit der Strassenbahn zu fahren oder über die chronisch verstopfte Brücke zu laufen kann man sich von Sonnenauf- bis untergang mit einem der bunt angestrichenen Boote für 3 Dirham über den Fluss rudern lassen. Tipp: Vorher den Preis für Überfahrt vereinbaren, damit man nicht abgezockt wird.
Drüben hat der milliardenschwere Investor Eagle Hills aus Abu Dhabi eine komplett neue Stadt ans Flussufer geklotzt: teure Cafés, Restaurants, Luxus-Wohnungen und einen Quai des Créateurs, einen Kai der Kreativen, mit Künstlerateliers, Kunsthandwerk und Boutiquen.
Ein Stück weiter flussaufwärts entsteht derzeit direkt am Wasser das monumentale Grosse Theater Grand Théatre de Rabat nach Plänen der 2016 verstorbenen Architektin Zaha Hadid.
In die Altstadt von Salé verirren sich nur selten Touristen. Hier geht das Leben seinen gemächlichen marokkanischen Gang. Auf der Seeseite lohnt ein Blick in die ehemalige Medersa (Koranschule) Abou el Hassan aus dem 11. und 12. Jahrhundert mit ihren reich im andalusisch-maurischen Stil verzierten Unterrichtsräumen und den winzigen Zellen der Schüler. Die Dachterrasse bietet freie Aussicht über die Altstadt, den Fluss und die Nordseite Rabats. Die Grosse Moschee nebenan hat acht Tore, eines für jeden Tag und eine für die Toten.

Handwerk:
marokkanische Kunsthandwerk, vor allem Stoffe, Teppiche, Leder- und Töpferwaren finden sich an vielen Ständen in der Altstadt von Rabat, dort vor allem in der Rue des Consuls. Wer nicht handelt, zahlt meistens deutlich zu viel. Im El Oulja in Salé kann man mehr als 60 Töpfern, Lederhandwerkern, Korbflechtern, Eisen- und Messing-Schmieden bei der Arbeit zuschauen und ihre Produkte kaufen.

Verkehr:
Die Innenstadt mit der Kasba, der Medina und der französisch geprägten Neustadt vom Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich gut zu Fuss erkunden. Praktisch ist die neue Strassenbahn, die alle paar Minuten die gesamte Stadt von Salé bis zur Universität im Süden und umgekehrt durchquert, www.tram-way.ma/fr. Schneller als mit der Tram kommt niemand durch die Stadt. Trotzdem stauen sich auf den Strassen weiterhin die Autos.
Eine Bahn-Fahrt kostet 6 Dh. Die Tickets muss man vor dem Einsteigen am Automaten oder einem der kleinen Verkaufsstände an den Bahnsteigen erwerben und in der Bahn entwerten. Kontrolliert wird ständig. Wer ohne gültige Fahrkarte erwischt wird zahlt 60 Dh Strafe und erntet die böse Blicke der Mitreisenden.
Zwischen dem Bahnhof Rabat Ville und Salé verkehren auch Regionalzüge. Beide Bahnhöfe bieten Anschluss an das marokkanische Fernverkehrsnetz. Derzeit baut die Eisenbahn ONCF das Schnellzugnetz aus. Demnächst fahren Hochgeschwindigkeitszüge von Casablanca über Rabat bis nach Tanger. Bis da hin zuckelt die Bahn eher gemütlich aber weitgehend zuverlässig durchs Land. Die Fahrkarten sind deutlich billiger als in Europa.
Geld:
Marokko zahlt in Dirham (Dh). 10 Dh kosten etwa einen Euro. Das Leben ist deutlich günstiger als in Europa. Für 50 – 100 Dh. kann man in einem durchschnittlichen Restaurant gut und reichlich essen. Sim-Karten für die marokkanischen Handynetze bekommt man am Flughafen und in zahlreichen Geschäften ab etwa 600 Dh mit einem Guthaben, das Gespräche nach Europa einschliesst.

Veranstaltungen:
Landesweit bekannt sind das Jazzfestival in der ehemaligen Totenstadt Chellah im Juni, das jährliche Autoren-Filmfestival, das internationale Musikfestival Mawazine im Mai / Juni und das Festival Karacena (Freibeuter-Festival) alle zwei Jahre im Juli in Salé. Zur Nacht der Galerien haben Mitte November landesweit Museen und Galerien geöffnet.
Jedes Jahr zum Mawlid (Geburtstag des Propheten, Termin richtet sich nach dem islamischen Mondkalender) veranstaltet die Stadt Salé seit 1569 das Wachslaternenfest (Festival des Cires) mit seinen farbenfrohen Prozessionen.
Übernachten:
Riad Aicha, Salé
von Besitzerin Françoise Boursier, einer Bretonin, liebevoll restaurierter und zum Gästehaus umgestalteter Riyad (um einen Innenhof gebautes typisches marokkanisches Wohnhaus) in der Altstadt (Médina) von Salé. Vom Bahnhof Salé Ville sind es etwa zehn Minuten zu Fuss, aber ohne telefonische Anleitung ist der Eingang schwer zu finden, 4 rue Essafe, Salé, online auf booking.com und tripadvisor. Ihre guten Kritiken dort hat sich die engagierte Gastgeberin verdient. Sie kümmert sich hingebungsvoll um ihre Gäste. Im Winter sind die Räume (und Betten) in dem alten Gemäuer leider sehr feucht.
Golden Tulip Hotel Rihab: Internationales 4* Hotel in einem Betonkasten mit Blick über den Bou-Rereg Fluss auf Salé am Nordrand des Stadtzentrums
2 Antworten auf „Rabat: Welten voller Widersprüche“
Spannender Beitrag, vielen Dank! Ich war nur einmal mit einer organisierten Tour in Marrakesch. Muss man zwingend Französisch sprechen können, um auf eigene Faust in Marokko unterwegs zu sein?
Zwingend nicht, aber es hilft schon sehr. Ich spreche gut Französisch, daher weiß ich nicht, wie es ist, wenn man kein Französisch kann. Von den Jungen, gut Gebildeten sprechen auch viele Englisch. Die einfachen Leute auf der Straße sprechen meist nur Arabisch. Da hat mir mein Französisch auch nicht viel geholfen. Ganz im Norden soll man angeblich auch mit Spanisch ganz gut durchkommen.