Zuletzt aktualisiert am 13. August 2017 um 18:18
meine Radioreportage aus Cork im Programm der Deutschen Welle:
Cork. Der schwarze Lee hält sie in seinen Armen, umspült sie von allen Seiten und badet sie in seinen Wellen. So schwer fällt ihm der Abschied, dass er sich auf seinem Weg zum nahen Meer windet, Seen bildet und so den zweitgrößten natürlichen Hafen der Welt angelegt hat.
Darin ankerte einst die Titanic auf ihrem Weg ins Verderben. Fast alle Ozeanriesen machten hier Station und Tausende von Auswandererschiffen nahmen die Menschen auf, die vor Hunger und Not nach Amerika flohen. Die britische Flotte brach von hier aus auf, um die Spanische Armada zu besiegen und um Nordamerika zu erobern. Als die Siedler dort um ihre Unabhängigkeit kämpften, halfen die Corker, wo sie konnten. Den in Cork an Land gebrachten Kriegsgefangenen steckten sie Brot und Geld zu.
Stadt der eigenwilligen Rebellen
„Wir sind die Rebellenstadt“, erklärt Stadtführerin Noreen. Stolz blitzt für einen Moment in ihren blauen Augen auf, bevor sie wieder in den sachlichen Berichtston wechselt. Sie erzählt von den Kanälen unter dem Straßenpflaster, den Dichtern, den Künstlern, Seefahrern, Hugenotten, jüdischen Einwanderern und vom irischen Schicksalsjahr 1920. Damals erschossen britische Spezialtruppen den Bürgermeister und brannten die Innenstadt nieder, weil sich die Corker nicht mehr unter das Joch der Kolonialherren fügen wollten. Später mussten die Steuerzahler seiner Majestät den Wiederaufbau finanzieren. Ein englisches Gericht hatte bestätigt was alle in Cork längst wussten: Der Stadt war großes Unrecht geschehen. Selbst das Rathaus, das sich seit 1936 wieder wie eine Miniaturausgabe des Washingtoner Capitols im schwarzbraunen Wasser des Lee spiegelt, mussten die Briten wieder aufbauen. Spätestens seit dem erfolgreichen irischen Unabhängigkeitskrieg trägt Cork stolz den Namen Rebel Town.
In Irland, heißt es, ist jedes vierte Haus eine Kirche und jedes dritte eine Kneipe. In Cork sind es ein paar Kirchen weniger und einige Kneipen mehr. Voll sind die Pubs fast alle und fast immer. Im „Thirsty Scholar“, dem „durstigen Schüler“ nicht weit von der 150 Jahre alten, im Tudor-Stil erbauten Universität, lauschen junge Leute aus aller Welt den beiden Fiedeln und der Gitarre. Die Instrumente scheinen mal zu streiten, sich mal zu umgarnen.
Die Musiker sind kaum älter als ihre Zuhörer. Zwei Männer und eine Frau, alle Anfang 20. „Diese Musik musst Du spüren. Da gibt es keine Noten, nichts ist in Stein graviert“, erklärt John, der junge Fiedelspieler. Er war auf einer irischen Schule. Dort wird in der alten Nationalsprache Gälisch unterrichtet und die irische Musik ist Teil des Lehrplans. An den hier Sesiún genannten, spontanen Auftritten in den Corker Kneipen liebt er die Freiheit beim Spielen. „Jeder hat seinen eigenen Stil und das ist gut und richtig“.
Gemeinsam lernen und wachsen
Auf der anderen Seite des Lee, im Schatten der alles überragenden neugotischen Kathedrale des Heiligen Fin Barre, suchen junge Leute ihren eigenen Stil in der bildenden Kunst. Am Crawford College of Art and Design, der Kunsthochschule, studieren sie Bildhauerei, Malerei und Zeichnen. „Wir wachsen hier gemeinsam. In aller Ruhe können wir uns frei ausprobieren und entwickeln“, schwärmt Anne. Mit 31 ist die kurzhaarige, kräftige Frau eine der ältesten unter den Absolventinnen, die auf dem großen Abschlussfest ihre Arbeiten zeigen.
In ganz Irland sind die Corker mit ihrem singenden Dialekt als fröhlich und gesprächig bekannt – und als eigenwillig. 1985 wählten sie aus Wut auf die Regierenden einen rebellischen Analphabeten in den Stadtrat. Sie sammelten Geld, damit sich ihr neuer Ratsherr ein Gebiss machen lassen konnte und finanzierten ihm seine erste Reise jenseits der Stadtgrenze: Zur exilirischen Gemeinde in den USA.
Ein anderer Corker löste einige Jahre zuvor einen Skandal aus, der seine Kreise bis nach Deutschland zog. Der Schriftsteller Patrick Galvin kritisierte als erster öffentlich die Zustände in den katholischen Erziehungsanstalten des Landes. In seinem inzwischen erfolgreich verfilmten Stück „Song for a raggy Boy“ verarbeitet Galvin seine eigene Geschichte. Um Geld zu verdienen hatte sich sein bettelarmer Vater zur britischen Armee gemeldet. Der junge Patrick lebte auf der Straße. Bei einem jüdischen Buchhändler lernte er Lesen und Schreiben, bis ihn das Jugendamt in ein Klosterinternat steckte. Dort schikanierten sadistische Priester die Kinder. Viele wurden verprügelt und missbraucht. Galvins Berichte brachten Journalisten auch in Deutschland auf die Spur von Sadisten und Kinderschändern in katholischen Internaten.
In Shandon gehen die Uhren anders
Das alte Cork der „kleinen Leute“ findet man noch in der Nordstadt Shandon jenseits des Lee. Lange ist es her, dass hier die Bauern aus ganz Irland ihre Produkte zum größten Buttermarkt Europas brachten. Ein Museum erinnert an die Zeit, als die streng kontrollierten Shandoner Butterfässer in alle Winkel des britischen Weltreichs geliefert wurden. In die Markthallen sind inzwischen ein Kunsthandwerker und das Institut für Tanz und Choreografie eingezogen.
Geblieben sind die kleinen, verwitterten Puppenstubenhäuschen, die sich unter den „Lügner mit den vier Gesichtern“ ducken. So nennen die Corker den Kirchturm, dessen vier Uhren alle eine unterschiedliche Zeit anzeigen. Auf seinem Dach glänzt statt eines Wetterhahns ein goldener Lachs, der an die Zeiten der Lachsfischerei im Lee erinnert.
„Offen und herzlich“
Auf dem Abschlussfest der Kunsthochschule verkauft Helen aus Schweden zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Cristina ihre selbstgemachten Porzellannasen, das Stück für 9 Euro 99. Erst interessiert sich kaum jemand für die filigranen Kunstwerke mit dem Gummiband. Doch später im Spailpin Fainac tragen viele ein Porzellannäschen im Gesicht. Nach einer Stunde sind die handbemalten Stücke ausverkauft. In dem Pub mit dem unaussprechlichen gälischen Namen gegenüber der letzten einheimischen Schwarzbierbrauerei feiern die Studenten zusammen mit jungen Leuten aus ganz Europa, Japan und Nordamerika ihren Abschluss. Helena und ihre Schwester Cristina. Sie liebt die „warme, herzliche Atmosphäre“ in Cork.
Vor allem am Freitag und Samstag Abend ziehen tausende junger Leute durch die Innenstadt. Obwohl die meisten mehr trinken, als sie vertragen, sind Schlägereien selten. „Wenn Du keinen Alkohol trinkst, kannst Du in Irland nicht viel machen“, lästert der junge Mann, der sich in einem Hotel als Nachtportier ein paar Euro dazu verdient. In Cork stimmt das nicht. Die nach Dublin und Belfast drittgrößte Stadt der Insel hat mehrere Theater, das Institut für Choreografie und Tanz, eine Oper, bekannte Jazz-, Chor- und Filmfestivals, eine der bekanntesten Kunstsammlungen des Landes, Galerien, die zweitgrößte Uni Irlands und das Literaturzentrum der irischen Südprovinz Munster.
Jobs für junge Leute aus der ganzen Welt
Die Kunststudentin Annie fühlt sich in Cork als Teil eines Ganzen, einer „Gemeinschaft, derer sich die Leute nicht so bewusst sind, die aber immer da ist.“ Die 23jährige ist hier am Lee-Fluss aufgewachsen, durch die Welt gereist und nun zurückgekommen: „Wie verloren Du Dich auch fühlst, hier gibt es immer einen Platz für Dich.“ – Einen Platz in einer der vielen Kneipen, wo die Menschen unabhängig von Herkunft, Beruf oder sozialem Status schnell ins Gespräch kommen oder einen Arbeitsplatz in den vielen Unternehmen, die sich an den Ufern des Lee in den letzten Jahren niedergelassen haben. Mit Steuerrabatten und billigen Grundstücken hat die irische Regierung Großunternehmen wie Apple oder die Hotelkette Marriot angelockt. Der Pharmakonzern Pfizer produziert in einem Corker Vorort Viagra-Pillen.
„Wenn Du Englisch und eine weitere Sprache kannst, findest Du schnell einen Job“, weiß Brian Kessler. Vor allem große US-Unternehmen haben ihre Call Center an der irischen Südküste gebaut. Die Telefongebühren sind günstiger als in den Staaten, die Zeitverschiebung passt zu den hiesigen Arbeitszeiten und die Iren sprechen Englisch.
Europäische Firmen folgten und stellen in ihren Telefonzentralen junge Leute ein, die englisch, deutsch oder eine andere europäische Sprache sprechen. Viele bleiben nur, bis sie genug Geld für die Weiterreise haben. So werden die Stellen schnell wieder frei.
Carla hat vor drei Jahren über eine Anzeige im Internet eine Stelle in Cork gefunden. Inzwischen leitet die 29jährige Münchnerin das Call Center Team eines US-amerikanischen Reiseveranstalters. „Hier ist der Alltag nicht so stressig wie in Deutschland“, meint sie und Brian, ebenfalls aus Bayern, bestätigt’s.
Er kam auf der Suche nach den irischen Wurzeln seiner Mutter vor ein paar Jahren nach Cork. Jetzt ist er immer noch da. „Vieles ist einfacher als in Deutschland“, meint der junge Mann, der im Kulturzentrum Everyman’s Palace Tickets verkauft. „Die Leute sind lockerer, aufgeschlossener, unkomplizierter.“ Schwieriger werde es, wenn man einen Handwerker braucht, warnt der 25jährige vor der Kehrseite der lockeren irischen Lebenseinstellung. „Wenn Du Dich hier um neun verabredest, brauchst Du nicht vor halb Zehn zu kommen.“ Das hat Brian inzwischen gelernt.
Billig ist das Leben in Cork nicht. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt kostet 800 Euro, ein Bier in der Kneipe rund vier Euro. Für einen Einkauf im Supermarkt zahlt man „bestimmt ein Viertel mehr als in Deutschland“, schätzt Brian. Dennoch liebt er, wie so viele junge Leute aus ganz Europa, die kreative, quirlige Atmosphäre in dem mit 180.000 Einwohnern überschaubaren Städtchen.
Kunst für alle
Die Malerin Anne Steinen ist in Cork geboren: „Diese Stadt brummt vor Ideen. Sie ist voll mit jungen, kreativen Leuten“, schwärmt sie und ärgert sich, dass „so viele Projekte an den Behörden oder simplen Versicherungsfragen scheitern“.
Im Kulturhauptstadtjahr 2005 soll sich das ändern. Aus 2000 Vorschlägen, die die städtische Veranstaltergesellschaft Cork 2005 auf ihre europaweite, offene Ausschreibung erhalten hat, wählten die Juroren 40 Projekte aus: Geplant sind Ausstellungen zur Geschichte der Ozeanriesen, die den Corker Hafen Cobh mit Nordamerika verbanden, ein Straßentheaterfestival, ein Monat der Kindheit, ein Ruderrennen vom 23 Kilometer entfernten Atlantik in die Innenstadt, Gastspiele von Performancekünstlern und Theatern aus den neuen EU-Ländern, Kunstausstellungen und viele kleinere Ereignisse unter dem Motto Kunst für alle.
Party auf der Klosterinsel
Der Heilige Fin Barre würde sich über diese quirlige Stadt zu Füßen seiner Kathedrale wundern. Er hat sich einst hier niedergelassen, um dem Rummel auf seiner Insel zu entfliehen. Als immer mehr Pilger in seine Einsiedelei auf der Insel Gugan Barra kamen, machte er sich auf die Suche nach einem ruhigen Plätzchen, an dem er Gott nahe sein konnte. Der eigenwillige Mönch folgte dem Lauf des schwarzen Flusses nach Osten. Schließlich gründete er vor 800 Jahren an einer Biegung des Lee ein neues Kloster, die Keimzelle der Stadt Cork.
Europas Kulturhauptstadt 2005 ist stolz auf ihre Tradition der meist friedlichen Begegnungen verschiedener Kulturen. In der Bucht, die der Lee Fluss unten am Meer geschaffen hat, landeten Wikinger, Normannen, Engländer und Hugenotten, die alle ihre Spuren in der Stadt hinterlassen haben. Das von den Religionsflüchtlingen aus Frankreich im 17. Jahrhundert gebaute Hugenottenviertel ist heute ein beliebtes, autofreies Ausgehviertel mit vielen neuen Bars und Restaurants. Ein Platz trägt dort den Namen des Rockgitarristen Rory Gallagher. Er ist Corker wie der „Befreier Irlands“ Frank O’Connor. Selbst James Joyce, Irlands bekanntester Schriftsteller, stammt eigentlich aus Cork. Sein Vater ist hier geboren und zog später nach Dublin. Über lange Zeit lebte die Familie nur von den Erträgen ihrer Häuser und Grundstücke im Süden. Joyce hat eine Kindheitserinnerung an die Stadt in einem seiner Stücke verarbeitet. Sein Vater bestellte sich im Victoria Hotel die bekannteste Corker Spezialität: Drisheens, eine Blut- und Innereiensülze, die, so Touristenführerin Noreen „widerlich aussieht und nach absolut nichts schmeckt“. Ein Metzger verkauft sie heute noch in der viktorianischen Ladenpassage „English Market“. Zwischen den gusseisernen Säulen der rund 150 Jahre alten Passage mit ihren bunt bemalten Decken duftet es nach frischem Kaffee, ausgefallenen Kuchen und nach Meer. Die Fischstände verkaufen alles, was der nahe Ozean an Genüssen hergibt.
Straßenlaternen, die an die Schiffe im Hafen erinnern
Draußen erinnert die neu gestaltete Hauptstraße Patrick Street mit ihren futuristischen Laternenmasten an die Schiffe, die hier Jahrhunderte lang festmachten. Sie brachten auch die niederländischen Kaufleute, denen die Stadt viele ihrer Bürgerhäuser, ihre grachtenähnlichen Kanäle und viele ihrer 128 Brücken über die Arme des Lee verdankt. Erst im 18. Jahrhundert ließen die Stadtväter die meisten innerstädtischen Kanäle zuschütten und die Stadtmauern abreißen, um Platz zu schaffen.
Stadtführerin Noreen erinnert sich an den Besuch der Juroren, die die Europäische Kulturhauptstadt 2005 auswählten: Sie hätten gesagt, dass sie „da unter dem Pflaster, wo das Wasser fließt, etwas spüren, was 2005 ans Tageslicht gefördert werden könnte“. Was das war? Sie konnten es nicht erklären. Aber die Leute haben gesehen, dass diese Stadt viel zu bieten hat. Und sie meinten, nun sei der Moment gekommen, es zu zeigen und zu feiern.
Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Tourism Ireland, vielen Dank!
Cork im Internet:
The Munster Literature Centre Literaturhaus und -Festivals
Hafen Cobh (Queenstown):