Zuletzt aktualisiert am 6. August 2017 um 9:53
Chemnitz. In Sachsens drittgrößter Stadt prallen die Gegensätze aufeinander: Neubauten aus Glas und Beton, DDR-Plattenklötze, weite Brachflächen und Perlen der klassischen Moderne. In den zahlreichen Industrieruinen und leerstehenden Gründerzeitbauten arbeiten junge Leute an der Zukunft ihrer Stadt, die andere zu früh aufgegeben haben.
Zu sphärischen Klängen wabern künstliche Nebelschwaden durch ein Birkenwäldchen. Am Tresen des aus rohem Holz gezimmerten „Raskolnikov“ warten ein paar junge Leute auf ihr Getränk. Die anderen haben sich mit einem Bier oder einem Wodka-Mix auf den Holzsofas ausgebreitet. Ein junger Mann steigt tropfend aus dem hellblau leuchtenden Schwimmbecken. „Baden auf eigene Gefahr“ hat jemand mit schwarzem Lack auf ein Brett gepinselt, das an einem Baumstamm neben dem Pool hängt.
Während sich der Himmel über der Stadt langsam violett färbt, leuchten gelbe, grüne und blaue Scheinwerfer die Nacht über Chemnitz ein. Rissige, grau-braune Fassaden verfallender Fabrikbauten reflektieren das bunte Licht.
Gründer-Zeit
„Es ist Zeit hier her zu ziehen“ sagt Eva, die junge Künstlerin mit den kurzen blonden Haaren. Verträumt blickt die 29jährige ins Leere, während sie von ihrem Kunststudium in Weimar und ihrer Jugend in Dresden erzählt. „Dort ist alles fertig, die Menschen sind satt. Jedes Angebot kostet Geld.“ Kultur werde den Besuchern in der nahen Landeshauptstadt nach dem Motto „Friss oder stirb“ vor die Nase gesetzt. Und hier? – „schauen die Leute, wo sie sich einbringen und helfen können.“
In Dresden wollte sie eine Ateliergemeinschaft gründen. Die meisten Interessenten seien ihr als möglicher Konkurrentin skeptisch begegnet. Anders hier. „Ich habe einen Toaster, Du eine Kaffeemaschine. Da können wir schon zusammen frühstücken“, habe ihr ein Chemnitzer geantwortet.
„Ordnung ist das halbe Leben, Schaukeln die andere“, hat Eva ihr Kunstwerk genannt, das in einer Fabrikhalle hinter dem Einwanderungsbüro von Wolkenkuckucksheim hängt: Acht in einem Oktagon angeordnete Schaukeln die zusammenstoßen, wenn die Nutzer nicht aufeinander achten. Zwei Wochen musste sie zeichnen und rechnen, bis sie die Anordnung genau so hinbekommen habe. Seit Tagen beobachtet Eva die Besucher der Kunstausstellung „Begehungen“. Sie ist „ begeistert von der Achtsamkeit“ der meisten. Einige setzen sich und beobachten, andere schaukeln drauf los. Ihr Werk versteht sie als Modell einer utopischen Gesellschaft, in der Menschen ihr Zusammenleben rücksichtsvoll miteinander aushandeln.
„Eine Macherstadt, urteilt nicht nur Eva über Chemnitz. „Die Leute drehen sich nicht weg, wenn Du ein Problem hast. Sie schauen in ihren Rucksack oder in ihr Telefonbuch, um Hilfe zu suchen.Nebenan hat Jan Glöckner das Einwanderungsbüro von Wolkenkuckucksheim eröffnet. „Wir nehmen jeden, wir sind doch nicht Deutschland“, verkündet er während er einem Besucher nach einem satirischen Test seine „Einbürgerungsurkunde“ überreicht. Er spüre, dass Chemnitz einst eine Großstadt gewesen sei. Der Kasseler Aktionskünstler freut sich über die interessierten Besucher seiner Performance und über die vielen Möglichkeiten, die diese kaum bekannte Stadt biete.
Die zerrissene Stadt
30.000 Wohnungen standen in Chemnitz zu Beginn dieses Jahrhunderts leer. Das einst wegen seiner Maschinenbau-, Motoren- und Textilindustrie „Sächsisches Manchester“ genannte Wirtschaftszentrum drohte zu verfallen. 1945 hatten Bomber das Stadtzentrum in Schutt und Asche gelegt. Bis dato eine der reichsten Städte Deutschlands hatte Chemnitz damit, wie Stadtführerin Veronika Leonhardt sagt, „seine Seele verloren“.
Sie selbst ist in Karl-Marx-Stadt geboren. Anfang der 50er Jahre erkor die Regierung in Ost-Berlin die zerbombte Arbeiter- und Industriemetropole zur sozialistischen Musterstadt: breite Alleen, sieben- acht- und zehngeschossige Plattenbauten, weite, gepflasterte Plätze und ein neues Wahrzeichen: das Karl-Marx-Denkmal.
Der 40 Tonnen schwere und sieben Meter hohe Kopf schaut heute jungen Skatern und Bikern zu, die auf den Betonplatten unter seinem bärtigen Kinn ihre halsbrecherischen Runden drehen. „Nischel“, sächsisch für Kopf, tauften die Einheimischen ihren neuen finster dreinblickenden schwarzen Mitbewohner – einst Symbol der roten Berliner Fremdherrschaft, inzwischen als Wahrzeichen geschätzt und als Motiv auf Schnapsflaschen, Schlüsselanhängern und sonstigem Nippes vermarktet.
Ein Spiegel der Zeitenwenden
Industrialisierung, Gründerzeit, Jugendstil, Bauhaus, realsozialistischer Plattenbau und Postmoderne: Alle Epochen der vergangenen 200 Jahre haben in Chemnitz ihre Spuren hinterlassen. So entstand ein wilder Mix aus emblematischen Bauten der Moderne wie das heutige Museum Gunzenhauser von 1930, das ehemalige Kaufhaus Schocken im Stil der Neuen Sachlichkeit, DDR-Architektur wie die Stadthalle aus den 70ern, weitläufige Industrieareale aus dem 19. Jahrhundert und Nachwende-Bauten, wie der Glaspalast des Kaufhof, dessen Fassade sich das Neue Rathaus von 1911 und das wieder aufgebaute alte aus der Renaissance reflektieren.
Aus dem Fritz-Heckert-Gebiet, eine Plattenbausiedlungen mit einst fast 90.000 Bewohnern, ist ein Quartier für 35.000 Menschen geworden. Rückbau nennen ostdeutsche Städte und Gemeinden den Abriss leerstehender Wohnblocks.
Die Menschen wollen wieder in der Stadt leben.
Auf dem Kaßberg erstrahlt zum Beispiel eines der größten Jugendstil-Viertel Mitteleuropas in neuem Glanz: Fast alle Villen und Stadthäuser sind inzwischen renoviert. Derweil verfallen hinter dem Hauptbahnhof Mietskasernen aus der Kaiserzeit, die an Berlins Prenzlauer Berg der Vorwendezeit erinnern.
Zerstörung, Wiederaufbau und Verfall haben neue Möglichkeiten geschaffen: Leerstehende Fabrikgebäude aus dem 19. und frühen 20. Inzwischen übernehmen Kultur, Dienstleistung und Handel die Überreste der einst blühenden Industrie. Europas größte Webstuhl-Werke, die Schönherr-Fabrik auf 83.000 Quadratmeter Grund, wandelte sich zu einem Gewerbepark mit Restaurants, Kleinunternehmen und Künstlerateliers.
Weltecho
Kunst und Kultur blühen in Industrieruinen wie dem ehemaligen Druckerei- und Verlagsgebäude auf einer weiten Brachfläche am Ufer des Flüsschens Chemnitz, das die Stadt gerade renaturieren lässt. Das weltecho bietet Konzerte, Lesungen, Filmabende, Ausstellungen und Performances für ein hier eher kleines Publikum.
Sachsens drittgrößte Stadt gilt als Metropole der Arbeit. „In Leipzig wird gehandelt, in Dresden das Geld ausgegeben und hier gearbeitet“, zitiert Maler, Bildhauer und weltecho-Mitgründer Frank Maibier ein sächsisches Sprichwort. Mit einigen Kollegen sitzt er nach der Finissage einer Ausstellung auf einer Biergartenbank im Innenhof zwischen fünf Etagen hohen, gekachelten Mauern aus dem 19. Jahrhundert. Chemnitz sei „eine proletarische Stadt der Arbeit“, die viele Freigeister hervorgebracht habe. Weil es keine Kunsthochschule gibt hätten sich die heimischen Künstler das Metier selbst erschlossen. Maibier lobt den Zusammenhalt der Menschen. Ein Kollege im Westen müsse Hilfe bezahlen. Hier sei es selbstverständlich, dass Freunde und Bekannte mit anpacken, wenn etwa ein großes Kunstwerk transportiert werden muss. Die anderthalb Tonnen Ton für die aktuelle Ausstellung habe zum Beispiel ein befreundeter Keramiker kostenlos vorbei gebracht. Nach dem Abbau holt er das Material wieder ab.
Auf dem Gelände eines Berufsbildungswerks für Blinde und Sehbehinderte hat Maibier mit einem Kollegen ein berührend schlichtes Mahnmal für die Opfer der Nazi-Euthanasie errichtet. Eine Stahlkugel in einem künstlichen Krater erinnert an einen Meteoriteneinschlag – ähnlich dem Schock, den Eltern erlitten, als sie erfuhren, dass die Nazis ihre behinderten Kinder deportiert haben. Niemand sagte ihnen, was mit den Opfern passiert war. „Kunst“, sagt Maiwald, „muss in Dir sein und aus Dir selbst heraus kommen, sonst funktioniert sie nicht“.
Mehr als 300.000 Einwohner zählte Karl-Marx-Stadt als Industriemetropole der DDR. 60.000 weniger sind es heute. „Ich dachte, die ganze Stadt sei leer“, erinnert sich der spanische Künstler Agustin Garcia an seinen ersten Eindruck von Chemnitz. „Die Schließung der vielen Großbetriebe muss die Menschen tief getroffen haben“, vermutet der 29jährige. Dann entdeckte er mit seiner Partnerin Nina Langwehn „die vielen freien Flächen und Möglichkeiten wie das Gelände des ehemaligen Spinnereimaschinenbaus im Stadtteil Altchemnitz. Die beiden jungen Künstler bauten im Rahmen des jährlichen Festivals „Begehungen“ ihre Installation Happy Loosers neben Eva Oliviens Schaukeln auf.
Hier gibt es keinen Kurator, der uns Vorschriften macht“, freut sich Kunststudentin Nina. „Wir haben hier alle Freiheiten.“ Jeden Sommer bespielen die „Begehungen“ leerstehende Häuser, Läden und Fabrikgebäude mit Kunstinstallationen und Performances.
Ein festes Team von 5-8 Leuten organisiert die „Begehungen“ und andere Kulturveranstaltungen. Dazu kommen viele Helfer. Die Stadt und die Kulturstiftung des Freistaats Sachsen unterstützen das Programm mit gut 40.000 Euro. Damit finanziert die Initiative unter anderem Gastaufenthalte auswärtiger Künstlerinnen und Künstler
Die Malerin Cornelia Zerbinski entdeckt Chemnitz neu. Aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt war sie nach dem Ende der DDR 15 Jahre lang im Westen und kam nun zurück: Sie lobt die vielen „direkten und weltoffenen Menschen und den Platz für alle Lebensformen.“
Der Häuserretter
Wo der fehlt hilft Lars Fassmann. An die 30 leerstehende Häuser rund Fabrikgebäude hat der stille, kräftige Mann zusammen mit seiner Partnerin, einer Designerin, gekauft. Die meisten waren schon zum Abriss freigegeben: undichte Dächer, brüchige Zwischendecken, zerschlagene Fenster. Fassmann kaufte sie zum Grundstückspreis und ließ nur das Nötige wie Dach und Leitungen reparieren oder ersetzen. Statt Laminat zu verlegen und neue Türen einzubauen renovierte er wo möglich die alten. „Das ist auf die Dauer kostengünstiger“. Die preiswert sanierten Gebäude vermietet er zu moderaten Preisen gerne an Künstler und andere Kreative.
Die Nutzer des Lokomov zahlen nur die Nebenkosten. So kann der gleichnamige Club im Erdgeschoss kostengünstige Ausstellungen, Filmabende und Konzerte organisieren. Im Haus wohnen Künstler, Musiker und andere Kreative. Auch ein ehemaliges Sparkassengebäude hat Fassmann übernommen. Dort ziehen Wohngemeinschaften, junge Unternehmen und ein Coworking-Space ein: Büros, die Menschen gemeinsam nutzen um Kosten zu sparen, sich auszutauschen und miteinander zu vernetzen.
Als Wohltäter versteht sich der 38jährige Unternehmer nicht- eher als jemand, der langfristig rechnet. „Das erste Haus haben wir für uns selbst gekauft und saniert. Da haben wir eine Menge gelernt.
„Künstler“, überlegt Fassmann, „sind Leute die Ideen haben. Sie bringen die Stadt weiter.“ So entstehe eine Dynamik, die neue Interessenten anlocke. „Wir investieren in unsere eigene Lebensqualität“, ergänzt Fassmanns Partnerin – und in den Wert der Immobilien.
Auf die Prognosen der Bevölkerungsforscher geben die beiden Investoren Fassmann nicht viel. Lange galt Chemnitz als sterbende Stadt. Inzwischen ist die Abwanderung gestoppt. Neue Unternehmen wie Fassmanns IT-Firma Chemmedia brauchen Fachkräfte. Die Arbeitslosigkeit ist unter die Zehn-Prozent-Marke gesunken.
An einer Bushaltestelle im Stadtteil Brühl hängt ein buntes Plakat: „Ein Fahrrad für 300 Euro“ verspricht ein Immobilienunternehmen neuen Mietern. Auf der Internetseite des Unternehmens sind es immerhin noch 100 Euro. Wer schon mal in Berlin oder in westdeutschen Großstädten eine Wohnung gesucht hat, glaubt zu träumen. Vermieter zahlen dafür, dass sie leerstehende Wohnungen an Mann oder Frau bringen.
Die unfertige Stadt
„Brühl Boulevard“ steht in verblassenden schwarzen Buchstaben über der einst beliebtesten Einkaufsstraße der Region. Im Biergarten des Sächsischen Hofs sitzen ein paar Mittagsgäste. Die meisten Plätze sind frei. In einem Straßenbeet blüht eine einsame Sonnenblume. Der Laden an der nächsten Ecke steht leer. Die Schaufenster sind mit weißer Folie überklebt. Nach dem Ende der DDR verfiel das Viertel, bis Leute wie Guido Günther und Laura Tzschätzsch kamen. Die Studienplatzlotterie hat die junge Berlinerin nach Chemnitz verschlagen. „Eigentlich wollte ich nach Aachen, wegen der Grenznähe und den vielen verschiedenen Kulturen, die sich dort begegnen“, erzählt sie lachend. Inzwischen hat die 28jährige auf dem Brühl zwischen leerstehenden Gründerzeit-Häusern und Sanierungsbaustellen das erste Café eröffnet. Im „Brühlaffen“ serviert sie selbstgebackenen Kuchen, Suppen und andere hausgemachte Leckereien, „alles bio und vegan“, wie sie versichert. An Chemnitz schätzt sie „das Unfertige, die vielen Brachen und Freiräume“ wie den Brühl. „Man kann sich einbringen.“
Aufgestanden in Ruinen
An einem der Tische, die Laura vor ihrem Cafe auf die Straße gestellt hat, rührt Guido Günther in seinem Kaffee. Der junge Mann mit den langen Haaren und dem Vollbart hat mit ein paar Freunden „Rebel Art“ gegründet. Im Auftrag von Firmen, Hausbesitzern und Kommunen bemalen sie Fassaden mit bunten Graffities. „Anfangs konnten die Leute damit gar nichts anfangen“, erinnert sich Günther. „Inzwischen läuft es gut.“ Als „Brühlpioniere“ bewohnen die Freunde über ihren Geschäftsräumen und Ateliers eines der frisch sanierten Häuser am Boulevard.
Die Gebäude im Stadtteil gehörten bis zum Ende der DDR der Kommunalen Wohnungsverwaltung KWV. Dann übernahm sie die städtischen Wohnungsbaugesellschaft GGG. Inzwischen sind die meisten Gebäude an einzelne Eigentümer verkauft, die sie nach und nach sanieren. Sechs Häuser hat die GGG für „Projekte“ wie die Brühlpioniere reserviert: Künstlerateliers, Wohngemeinschaften, kleine, kreative Unternehmen. Günther gründete mit seinen neuen Nachbarn und Mitbewohnern eine Genossenschaft, die das 1400 Quadratmeter große Eckhaus für 125.000 Euro gekauft hat. Gemeinsam sanieren die Brühlpioniere ihr neues Domizil. Unten soll eine Galerie einziehen, außerdem Gastateliers für auswärtige Künstler und im Dachboden Arbeitsräume für die Gemeinschaft.
Auf dem Boulevard pflanzen Guido Günther und seine Mitstreiter Blumenbeete und Bäume. Hinter einem der Häuser haben sie ein Hochbeet angelegt, in dem frisches Gemüse gedeiht.
In eine ehemalige Schule ist das Musikkombinat eingezogen, das jungen Bands Proberäume und Bühnen zur Verfügung stellt. Das nicht-kommerzielle Lokalradio T baut gerade sein Studio auf.
„Herzen berühren, Menschen bewegen, den Brühl beleben“, nennt Ulrich Täuber das Motto seines Begegnungszentrums Inspire gegenüber dem Brühlaffen. Der Mathematiker kam in den 90er Jahren im Auftrag einer christlichen Organisation von Erlangen nach Chemnitz. Mit Musiknächten, Begegnungen mit Flüchtlingen, Lesungen und einem regelmäßigen Nachbarschaftsfrühstück fördert das Inspire Austausch und Zusammenhalt im Viertel. „Die meisten Chemnitzer seien nur schwer für neues zu begeistern“, bilanziert Täuber nach einigem Zögern. Die Bevölkerung sei älter als in anderen deutschen Städten. Von den 11.000 Studierenden der Technischen Universität sehe man wenig. Ändern werde sich das hoffentlich, wenn die Bibliothek demnächst in die ehemalige Aktienspinnerei zwischen Brühl und Hauptbahnhof einzieht.
Dennoch lobt er das Engagement der Nachbarn, der Kommunalpolitiker und der Verwaltung für den Brühl. Mit jährlich 20.000 Euro unterstützt die Stadt Bürgerinitiativen in der Gegend.
Für die Entwicklung des innenstadtnahen Viertels hat das Rathaus einen Quartiersmanager eingesetzt. Der Architekt und Stadtplaner Urs Luczak kam 2002 nach Chemnitz. Offiziell firmiert er als „Referent der Oberbürgermeisterin für besondere Projekte“. Seiner Chefin sei „der Brühl als Quartier der Möglichkeiten ein ernsthaftes Anliegen“. Das Konzept kommt an. Inzwischen übersteige die Nachfrage nach Häusern und Wohnungen am Brühl das Angebot. Aufwändig sanierte Wohnungen mit neuen Balkonen kosten inzwischen bis zu 6,70 Euro je Quadratmeter, deutlich mehr als in anderen Stadtteilen.
Um die verschiedenen Interessen im Viertel auszugleichen organisiert Luczak Eigentümer- und Nachbarschafts-Stammtische. Zu Themenforen, auf denen Anwohner jeweils aktuelle Anliegen diskutieren, kommen immerhin „durchschnittlich 30 Leute“. Sie reden über Lärm, die geplanten Parkplätze, denen so mancher Innenhof-Garten zum Opfer fallen wird und die Verkehrsführung. Weil die Grundstücke nach der Privatisierung verschiedenen Eigentümern gehören, muss der Brühl-Boulevard für den Autoverkehr geöffnet werden. Anders sei nicht jedes Haus wie vorgeschrieben mit dem Auto erreichbar.
Auch für den Raumsoziologen Luczak ist die „geplante Entwicklung eines Kreativquartiers unter den Bedingungen der Marktwirtschaft“ etwas Neues. In Chemnitz, wo so viele Kreative an der Zukunft ihrer Stadt arbeiten, stehen die Chancen besonders gut.
Chemnitz-Info: Was – wie -wo
Chemnitz zum Hören: Meine Radioreportagen im Deutschlandfunk und meine Sendung im ORF Ö1 Diagonal
Chemnitz per Smartphone entdecken
Stadtmagazin 371
Freies, nicht-kommerzielles Chemnitzer Stadtradio T
Kultur:
Auf rund 80.000 Quadratmeter riesiges Gelände des ehemaligen Spinnereimaschinenbaus mit zahlreichen, leerstehenden Gebäuden gibt es mehrere Open-Air-Bühnen, Konzerte, Ausstellungen, Bars und mehr, Juni – Sept. bei schönem Wetter Do. – So. ab 17 Uhr, Spinnerei Chemnitz, Altchemnitzer Str. 27, Tel. 0371 27096790
Galerie und Bühne für kleine und große Kunst, Theater Lesungen Konzerte und mehr: Weltecho, Tel. 0371 364691 Annaberger Str. 24
Kleine, feine Galerie mit Kunst aus Chemnitz und dem Rest der Welt: Galerie Weise, Innere Klosterstr. 1 (Eing. Kirchgässchen), Tel. 0371 69444
Kunst- und Kulturhaus Arthur im ehemaligen Stasi-Gebäude, das junge Leute nach der Wende besetzten: Ausstellungen, Lesungen, Konzerten, Poetry Slams, Comedy-Club, Kreativladen, politischer Bildung, Frauenzentrum und Kulturkneipe aaltra, Tel. 0371 302538 Hohe Str. 33
Küchwaldbühne: Freilichtbühne für Theater, Konzerte und mehr im Park
Nachtleben:
Atomino: Angesagter Klub mit Konzerten und mehr im Keller des Kulturkaufhauses DAStietz in der Innenstadt (gegenüber Zentralhaltestelle), , einst (an anderem Standort) Heimat der Ost-Kultband Kraftklub , In der Innenstadt sitzt das Atomino Tonträger Label
Alternativer, basisdemokratischer Club und Konzert-Location in einer alten Fabrik, Motto: „Entweder man wird glücklicher oder schlauer oder zumindest ordentlich hacke.“ Jeden Do. Abend „Volxküche: Veganes Essen gegen Spende, Zukunft, Leipziger Straße 5,
Lesungen, Filmabende, und Konzerte (vor allem Indie, Elektro und Instrumental genießen die Gäste im Lokomov unter Original-Lampen aus dem DDR-„Palast der Republik“ alias Erichs Lampenladen, sonntags ab 16 Uhr Suppen gegen Spende, Augustusburger Str. 102,
Leckereien und Jazz im Cafe und mehr bietet Emmas Onkel, Weststr. 67
Museen:
Die ganze Kunst der klassischen Moderne: Die Kunstsammlungen Chemnitz beherbergen in ihrem Haupthaus mehr als 80.000 Exponate, darunter viele Werke mehrerer Brücke-Maler wie dem in Chemnitz geborenen Karl Schmitt-Rottluff. 2010 erhielten die Kunstsammlungen den Preis „Museum des Jahres“ , Theaterplatz 1. Im 1930 fertiggestellten ehemaligen Sparkassen-Gebäude zeigt das Museum Gunzenhauser (Stollberger Str. 2) Werke aus der Sammlung des gleichnamigen Kunstfreunds. Er stiftete dem Museum fast 2500 Werke von 70 Künstlern der klassischen Moderne, darunter 290 Arbeiten von Otto Dix, Gemälde von Jawlensky, Felixmüller, Münter, Corinth, Beckmann und vielen weiteren. Die junge Kuratorin Anja Richter gibt gerne auch heimischen Nachwuchskünstlern eine Chance: In vier Wechsel-Ausstellungen pro Jahr zeigt sie junge sächsische Kunst.
Lebendige Frühgeschichte: Im ehemaligen Kaufhaus Schocken hat der Freistaat Sachsen ein ultramodernes Archäologiemuseum eingerichtet. Das in den 20er Jahren nach Plänen des Architekten Erich Mendelsohn errichtete Gebäude gilt als Ikone der klassischen Moderne. Innen zeigt das Staatliche Museum für Archäologie smac auf 3000 Quadratmetern unter dem Motto „Kulturen entdecken – Geschichte verstehen“ in Videoprojektionen, Filmen, Vitrinen und Installationen 280.000 Jahre sächsische Historie. Eine weitere Ausstellung in den um das Gebäude laufenden Galerie erzählt die Geschichte des Kaufhausgründers Schocken, der in dem 30er Jahren vor den Nazis nach Palästina fliehen musste. Einem seiner Nachfolger gehört die bekannteste israelische Zeitung Haaretz, smac, Stefan Heym Platz 1,
In der mehr als 100 Jahre alten ehemaligen Gießerei Escher zeigt das Sächsische Industriemuseum Technik der vergangenen 200 Jahre: Autos (darunter zahlreiche DKW aus Chemnitz), Webstühle, eine komplette in Chemnitz gebaute Dampflok und eine funktionierende Dampfmaschine von 1896. Witzig: Ein Trabi mit Campingaufbau aus der DDR, Zwickauer Str. 119
Der Himmel für Pufferknutscher: Im Rangierbahnhof von 1900 erzählt das Sächsische Eisenbahnmuseum mehr als 100 Jahre Eisenbahngeschichte: Dampf- und Diesellokomotiven u.a. aus dem Werk des„Sächsischen Lokomotivenkönigs“ Hartmann in Chemnitz, zwei Rundheizhäuser, Personen und Güterwagen An der Dresdner Bahnlinie 130c.
Noch mehr Schienenglück? Kein Problem: An den Wochenenden dreht die Schmalspurbahn ihre Runden durch den Küchwaldpark. Betrieben wird sie von Kindern und Jugendlichen, die hier begeistert in ihrer Freizeit die Grundlagen des Eisenbahnerhandwerks lernen, Parkeisenbahn, Küchwaldring 24, Tel. 0371 3301100 www.parkeisenbahn-chemnitz.de
Eine Zeitreise in die raumfahrtbegeisterten 60er und 70er Jahre der DDR bietet das Kosmonautenzentrum Siegmund Jähn im Küchwaldpark. Für die ganz Mutigen gibt es – „einmalig in Deutschland“ – einen simulierten Weltraumflug.
Mit dem Bau der Fabrikantenvilla Esche leitete der belgische Gestalter und Innenarchitekt Henry van de Velde den Übergang vom Jugendstil zur Moderne ein. Die Villa Esche beherbergt seit 2001 das einzige van der Velde Museum Deutschlands eine Begegnungsstätte und ein Restaurant, Parkstr. 58,
Theater:
Als eine der wenigen Städte dieser Größe (rund 244.000 Ew.) unterhält Chemnitz ein Fünf-Sparten-Theater mit Oper, Operette, Musical, Schauspiel, Philharmonie, Ballet und – inspiriert vom nahen tschechischen Nachbarn – Puppentheater, Theater Chemnitz, Tel. 0371 4000430,
Musik:
Ostdeutschlands erstes Band-Gründerzentrum: Musikkombinat in der ehemaligen Karl-Liebknecht-Schule, 0371 27347790
Brühl:
Zu DDR-Zeiten beliebteste Einkaufsstraße der Stadt verfiel der Brühl nach der „Wende“. Stadt, Anwohner Start-Up-Unternehmen und zahlreiche Anwohner/innen planen gemeinsam ein neues Kreativ-Quartier. EinMusterbeispiel demokratischer Stadt- und Quartiersplanung.
Veranstaltungen:
Mai: Mozartfest: größtes Festival klassischer Musik in Sachsen
Juni-Sept (je nach Wetter):
Stadtstrand an der Chemnitz mit Liegestühlen, Cocktailbar, Eiscafé, Sandstrand, Konzerten und mehr, jeden Sonntag Yoga, Falkestr. (vor dem Weltecho), Tel. 0371 2324042
Ende Juni:
von Kraftklub gestartetes Kosmonaut Festival am Stausee Rabenstein, nach dem Abzug des Splash ein Highlight des Chemnitzer Jahreskreises
Juli/August: Filmnächte: Open-Air-Kino vor historischer Kulisse am Theaterplatz
Drittes Wochenende im August: Festival für junge Kunst Begehungen: Events, Performances, Ausstellungen und mehr in leerstehenden alten Fabriken und anderen ausgefallenen Bauwerken
Letztes August-Wochenende: Stadtfest
Mitte September: Mit einem Gründerzeitmarkt mit Fahrgeschäften aus Kaiser Wilhelms Zeiten am Rathaus und vielen weiteren Veranstaltungen feiert Chemnitz die Tage der Industriekultur. Das Kulturprogramm „Industriewelten“ bietet Einblicke und Erlebnisse in ansonsten geschlossenen alten Industriegebäuden.
Oktober: Festival kammerMACHEN für Off-Theater, Performing Arts und Klangkunst im Weltecho
Dezember:Chemnitzer Weihnachtsmarkt mit „Erzgebirgsdorf“, Mittelalter-Markt und Großer Bergparade am 1. Advents-Samstag
Fortbewegung:
Die Innenstadt lässt sich bequem zu Fuß erlaufen. In die Vororte fahren im dichten Takt Busse und Straßenbahnen. Am Bahnhof vermietet Chemnitzer Stadtfahrrad Räder für 2 € / Tag: Heinstr. 125 (Seitenausgang des Hauptbahnhofs)
7 Antworten auf „Chemnitz: Stadt der Möglichkeiten“
Oha! Chemnitz ist für mich soooo weit weg und irgendwie hab ich das nie mit „Urlaub“ verbunden. 😀 Die Schaukeln und der Stadtstrand sind aber zu schön, um sie sich nicht zu merken. Chemnitz, vielleicht besuch ich dich mal!
Liebe Grüße
Christina
Sehr schöner Artikel. Zwei kleine Korrekturen: Die Parkeisenbahn fährt täglich außer montags und die mehrmals erwähnte Industriebrache war keine Spinnerei, sondern der Spinnereimaschinenbau.
Danke für die Hinweise, korrigiere ich gleich!
Sehr schön geschrieben. Das eine oder andere vermisse ich noch, z. B. die Küchwaldbühne und das FritzTheater. Vielleicht beim nächsten Mal.
Danke, wird gleich ergänzt!
Bei Museen würde ich noch folgende ergänzen: Straßenbahnmuseum https://www.strassenbahn-chemnitz.de , Fahrzeugmuseum: https://fahrzeugmuseum-chemnitz.de ; Spielemuseum: https://www.deutsches-spielemuseum.eu/
Super Artikel, schön auch mal positive Worte zu lesen, über diese Stadt.
Kleine Ergänzung: wenn man die Spinnerei erwähnt, kann man ins Nachtleben auch die Sanitätsstelle mit aufnehmen. Befindet sich auf dem Gelände und ist das Winterquartier für die meisten Spinnerei-Veranstaltungen! 🙂