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Essen: Grün im Pott

In der einst grauen, smoggeplagten Kohle-Stadt Essen gedeihen Wäldern, Feldern, Parks und Wiesen. Jetzt trägt die Ruhrmetropole den Titel „Grüne Hauptstadt Europas“. Und zwischen all dem Grün wird es immer bunter.

von Robert B. Fishman

Essen. Auf Abraumhalden wachsen Wälder, alte Werksbahntrassen werden Fahrradwege, Abwasserkanäle lebendige Flüsse. Auf der Ruhr, die dem Kohlen- und Stahl-Revier den Namen gab, leben Kormorane, Wildgänse und reichlich anderes Getier. Pünktlich zum Sommeranfang eröffnete an der einstigen Dreckbrühe wieder der erste Badestrand. 

Pflanzenwand zur Luftreinigung am Hauptbahnhof in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Vierspurige Pisten zerschneiden die Essener Innenstadt. Nett gemeint: Die Deutschen Bahn hat zum Jahr der Grünen Hauptstadt Europas in Essen vor dem Bahnhof mit Moosen und anderen Pflanzen bewachsene Metallrahmen aufgestellt. Sie sollen Schadstoffe aus der dicken Luft filtern. Erst als ich mich direkt daneben stelle, wird’s ein bisschen kühler und frischer.

In den 1950er und 60er Jahren haben Stadtplaner und Politiker die City wie viele westdeutsche Innenstädte gründlich zerstört. Was der Zweite Weltkrieg übrig gelassen hat, musste dem Götzen auf vier Rädern weichen: „Die autogerechte Stadt“ brauchte Platz für breite Straßen und Kreuzungen.

Die Sonne brennt mir auf den Helm. Mit dem Fahrrad durch das grüne Essen? War wohl doch keine so gute Idee, oder? Etwas ratlos stehe ich vor meinem Hotel. Der Handelshof hat als einziger Altbau am Bahnhof Krieg und Stadtplanung überstanden. Die Eltern des Schauspielers Heinz Rühmann führten vor gut 100 Jahren hier ein Hotel. Inzwischen gehört es zu Novum.

Gleich dahinter beginnt die Fussgängerzone. Filialen diverser Modeketten in schmucklosen Bauten der 60er und 70er Jahre, Beton- und Gasfassaden. Vorsichtig rolle ich bergab nach Norden. Ein Theaterbau aus dem späten 19. Jahrhundert fällt mir auf, das Grillo Theater, sonst nichts.

Hinter dem Einkaufszentrum Limbecker Platz, eine der größten innerstädtischen Malls in Deutschland, sitzen ein paar Leute auf bunt angestrichenen Biergartenbänken. „Unperfekthaus“ steht in gelben Leuchtbuchstaben an der von begrünten, umlaufenden Balkonen geschmückten Fassade.

„Reinhard kommt gleich“, lässt mich der kräftige, freundliche Typ hinter der Theke wissen. Das Essen aus der Restaurantküche scheint er zu mögen. Mir schmeckt es auch. Für 12 Euro kann man sich an mehreren Büffets unbeschränkt bedienen. 20 verschiedene alkoholfreie Getränke gibt es kostenlos dazu. Obwohl in einem nichtssagenden 70er Jahre-Bau strahlt der Laden auf mich eine entspannte Ruhe aus. Die Leute unterhalten sich und gehen ihr Tagwerk gelassen an. Alle duzen sich freundlich.

Coworking-Dachterrasse im Künstlerhaus und Kreativzentrum Unperfekthaus in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Dahinter steckt Reinhard Wiesemann, der freundlich lächelnd zu zu unserer Verabredung erscheint. Als Jugendlicher gründete eine IT-Firma, die Interfaces, also Schnittstellen baut. Später verkaufte er das Unternehmen mit einem satten Gewinn. Über Zahlen spricht der ruhige Mittfünfziger „lieber nicht.“

Anfang der 2000er erwarb er das ehemalige Franziskanerkloster in der nördlichen Essener Innenstadt, das er zum Künstler- und Kreativzentrum „Unperfekthaus“ umbaute. Auf mehr als 4000 Quadratmetern schaffen Maler, Musiker und viele andere, die „etwas Kreatives, Interessantes und Legales“ machen. Wer diese Voraussetzungen erfüllt, darf die Seminarräume, Ateliers, das Foto- und Tonstudio, Probenräume sowie Werkstätten kostenlos nutzen.

„Meine Eltern haben mir alle Freiheit gelassen“, erinnert sich Wiesemann. »Ich durfte basteln und ausprobieren.“

Als Zwölfjähriger besuchte er Volkshochschulkurse in Elektrotechnik, schraubte im Keller an den ersten Rechnern und holte mit 17 beim europäischen „Jugend forscht“-Wettbewerb den zweiten Platz. Mit dem Unperfekthaus möchte er „etwas zurückgeben“. Mit Kurzhaarschnitt, Brille und kariertem Hemd über der Hose könnte der Mäzen voller Ideen ein unscheinbaren Nerd sein.

Als seine Firma auf 50 feste Mitarbeiter gewachsen war verkaufte er den Laden und gründete später das Linux-Hotel am Essener Stadtrand. Dort besuchen Programmierer und Nutzer Schulungen und entwickeln das freie Betriebssystem weiter. „Selbstverständlich möchten wir Geld verdienen“, heißt es auf der Internetseite. „Eine Aktivität, die sich wirtschaftlich nicht trägt, ist instabil, und/oder sie ist abgekoppelt von den Bedürfnissen der Menschen.“ Dennoch glauben die Macher, dass man “Geld verdienen, Anderen nützlich sein und dabei Freude haben kann“.

Lückenfüller

Die Marktwirtschaft, meint Wiesemann, „ist wahrscheinlich das beste System, das wir je hatten, aber sie hinterlässt Lücken.“ Einige davon möchte er füllen. Es gebe so viele Menschen, die etwas Sinnvolles tun wollen. Dafür stellt der Umtriebige Räume. An Getränkeautomaten können sich die Kreativen kostenlos bedienen. „Ich möchte in Großzügigkeit leben“, sagt der Gründer.

Künstlerhaus und Kreativzentrum Unperfekthaus in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Auf den Namen für das Kreativzentrum brachte ihn ein Roman von Michael Ende. Das Haus sei „nie fertig. Wenn etwas zu perfekt ist sind wir nur noch Zuschauer.“ Begeistert erzählt er von den vielen Projekten, die im Unperfekthaus entstanden sind und von Menschen, die sich durch die Begegnungen hier weiterentwickeln.

Sechs Häuser hat Wiesemann inzwischen in der nördlichen Innenstadt gekauft. Eines davon schenkte der IT-Spezialist der Stadt, damit sie dort ein Bürgerzentrum eröffnet. Das erfahre ich nebenbei, als ich ihm und zwei Gästen zu seinem jüngsten Projekt folge:  Dem GeKu-Mehrgenerationenhaus. Dort will Wiesemann selbst „alt werden“. WG-Zimmer und Wohnungen vermietet er für 15 Euro pro Quadratmeter. Doch für jeden Quadratmeter Wohnraum gibt es für die Bewohner die Hälfte an Gemeinschaftsfläche dazu: Sauna, Wellnessraum, ein riesiges Wohnzimmer mit Dachterrasse und mehr. Getränke und einige andere Besonderheiten sind in der Miete enthalten. Anders als die meisten Mehrgenerationenhäuser zieht Wiesemanns Projekt sehr viele junge Leute an. Die moderne, minimalistisch-stylische Einrichtung trägt dazu bei, ebenso freies W-Lan, ein Coworking-Raum und Platz für Wohngemeinschaften. Von der Dachterrasse des Gemeinschaftsraums geniessen wir den Blick über die Dächer der Innenstadt. Ins Erdgeschoss sind ein Café und ein Trödelladen eingezogen. Hier kann jeder gebrauchte Sachen verkaufen.

Damit sich die Welten der Kreativen und der Geschäftsleute begegnen, hat der Gründer und Erfinder dem Unperfekthaus ein Business-Hotel zur Seite gestellt. Dessen Gäste frühstücken wie die Künstler im gemeinsamen Restaurant. Dort bekommt man für 34,90 Euro eine Tagesflat: Essen und Trinken so viel man will und für das Nickerchen danach ist die Nutzung des Ruheraums im Preis enthalten. Wer nach 15 Uhr zum Mittagessen kommt, zahlt für das „Last Minute Büffet“ 2 Euro 50. So kann sich hier jeder eine Mahlzeit leisten.

Reinhard erzählt eher zurückhaltend. Er nimmt sich selbst nicht so wichtig. Er kauft als Technik-Freak „immer gerne das neueste von Apple“, erzählt Reinhard freimütig, aber „Konsum ist doch nicht alles.“ Deshalb investiert er gerne in Sinnvolles und in die Lebensqualität seiner Heimatstadt. „Schließlich lebe ich hier und habe dann auch etwas davon.“ Sein ruhrgebietstypischer Pragmatismus gefällt mir. Statt sich als Gönner darzustellen schaut er lieber, wo sich Eigennutz und die Interessen anderer ergänzen. Die Schnittmenge ist groß. Dabei will er „sich nicht so dicke machen“, also gerne bescheiden auftreten.

„Wenn ich mein Wohnumfeld verbessere, erhöhe ich auch den Wert meiner Häuser“ schiebt er – jetzt ganz Geschäftsmann – nach und erzählt, wie er den Pfarrer der Kreuzeskirche nebenan für eine weiteren Idee gewonnen hat: Sonntags gehört das Gotteshaus den Gläubigen. Werktags füllen Tagungen, Lesungen, Konzerte und „gerne auch Parties“ die leere Kirche. Der Altar auf Rollen wird dafür in einen Nebenraum geschoben. In der ehemaligen Sakristei haben sie eine Bar eingebaut. Durch die bunten Pop-Art Fenster des US-Künstlers James Rizzi fällt weiches Licht in die schlicht-weiße Kirche.

Pop Art Fenster von James Rizzi in der evangelischen Kreuzeskirche in Essen, die werkstatgs als weltliche Event-Location genutzt wird, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Direkt, unkompliziert und einfach machen

Im Ruhrgebiet mag ich vor allem die Leute: Direkt, unkompliziert und einfach machen. Ob in der Kneipe, der Tram oder auf der Strasse. Meist komme ich schnell mit den Menschen ins Gespräch. Natürlich gibt es auch die, die das Klischee vom prolligen Pottbewohner bestätigen. Wohlgenährt von reichlich Mantaplatte (Pommes rot-weiß mit Currywurst und anderen billigen Fleischbrocken) mit Bier, große Klappe, tiefergelegtes, getunetes Auto, das man nur im Notfall verlässt. RTL2-Nachmittagsfernsehen Live. So ein Typ hat mich gestern auf einer der vierspurigen Ausfallstraßen im Essener Norden so knapp überholt, dass ich fast vom Fahrrad gefallen wäre.

Symbolbild Ruhrgebiet: Schlote, Kohle, Zechen und Fussball in Essen Stoppenberg, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Der Essener Norden ist eine Welt für sich. Fördertürme der stillgelegten Zechen überragen graue Bergarbeiterhäuschen und teils heruntergekommene Reihenhäuser, in denen vor allem die ehemaligen „Gastarbeiter“ und ihre Nachkommen wohnen. Als die Zechen, Kokereien und Stahlküchen Arbeitskräfte brauchten, holten sie „Arbeitskräfte“ aus Südeuropa und der Türkei. Die Betriebe verschwanden, die Menschen blieben. Das Ruhrgebiet verkam mit dem Ende der Kohle- und Stahlindustrie zum Armenhaus Westdeutschlands.

Ich erinnere mich an die Reklame der Grünen Hauptstadt Europas und suche – vergeblich – einen der angeblich so vielen Fahrradwege, die durch Parks und auf ehemaligen Werkbahntrassen der Zechen, Kokereien und Stahlwerke durch Essen führen sollen. In der Innenstadt folge ich den roten Wegeweisern Richtung Altenessen, Stoppenberg  und „Zollverein“, wo einst die Kumpel den Reichtum des Essener Südens aus dem Boden schlugen.

Die Radwege enden an vierspurigen Auto-Rennstrecken im Nirgendwo zwischen Wohnsiedlungen und Gewerbegebieten. Selbst der Fahrrad-Navi von google maps schickt mich immer wieder in die Irre. Schließlich lande ich doch noch auf Europas größtem ehemaligen Zechengelände, dem UNESCO Welterbe Zollverein. Die Stadt wollte die 1986 stillgelegten Kohlengrube mit angeschlossener Kokerei zur Mülldeponie machen. Bürger protestieren. Zusammen mit einer Initiative aus Wissenschaftlern, Stadt- und Landschaftsplanern setzten sie durch, dass aus Zollverein ein rund 100 Hektar großes Freilichtmuseum wurde. Bis ich es gefunden habe, sind das Red Dot Design-, das Ruhrmuseum, das Infozentrum und die vielen anderen Einrichtungen auf dem Gelände schon geschlossen. Aus ehemaligen Werkstraßen sind Rad- und Wanderwege geworden, auf den Grünflächen Wälder und Wiesen herangewachsen.

Weltkulturerbe Zeche Zollverein in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Zwei Sicherheitsleute sitzen beim Feierabendbier auf einer Bank. Den Weg zur Schurenbachhalde wissen sie auch nicht. Also folge ich weiter google maps, lande in Sackgassen, durchquere Bergarbeitersiedlungen und stehe schließlich vor einem mit Bäumen, Büschen und Gestrüpp zugewachsenen Berg. Nach einigen Runden um den Haufen Abraum, den die Zechenbetreiber hier einst abgekippt haben, finde ich doch noch den Weg zum Gipfel. Auf einem anthrazitgrauen kahlen Geröllfeld ragt eine Stahlplatte in den blauen Himmel: Bildhauer Richard Serra hat die „Bramme für das Ruhrgebiet“ hier aufgestellt. Hier fügt sich seine nutzlose Rostkunst harmonisch in die Landschaft.

Besucher beim Picknick auf der Schurenbachhalde im Essener Stadtteil Altenessen mit der Skulptur “Bramme für das Ruhrgebiet” von Richard Serra im Abendlicht, , 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Junge Leute haben sich im Schatten des Werks zum Picknick niederlassen. Sie bereiten eine Kunst- und Tanzperformance in dieser Mondlandschaft vor. Dahinter färbt die untergehende Sonne den Himmel rot. Schornsteine eines Kohlekraftwerks qualmen. Von hier oben sieht Essen tatsächlich sehr grün aus.

Anderntags frage ich in der Touristinfo nach den Radwegen. Man empfiehlt mir die App „Essen erfahren“. Damit finde ich die Routen und gelange tatsächlich nur durch Parks und Grünzüge, entlang von Bächen und ehemaligen Abwasserkanälen ins frühere Bergarbeiterviertel Katernberg.

Am Ende einer Siedlungsstraße steigt ein Feldweg steil an. Ich stehe vor einem Zaun. In der Stadt hatten sie mir von Hubertus Ahlers und seiner Bonnekamp-Stiftung erzählt. Er erwartet mich in seinem Paradies hinter dem Tor.

Blühendes Paradies über dem Bergarbeiterviertel

„Die Stadt macht Grünflächen platt. Bauen bringt Profit”, schimpft er über die Grüne Hauptstadt Europas, während er Blüten von einem seiner vielen Beete pflückt. Der Mann muss es wissen. Über 15 Jahre kämpfte er gegen die Kommune und einen Investor, um 28.000 Quadratmeter in eine blühende Landschaft zu verwandeln.

„Neue Urbane Landwirtschaft“ nennen Ahlers und seine Mitstreiter ihre Gartenlandschaft. Auf einem Hügel über Katernberg bauen sie Kräuter an, essbare Blüten, Lauch, Kartoffeln und mehr. Wo die Bewohner ihre Heimat einst am „Gestank nach faulen Eiern“ erkannten, summen heute die Bienen. Der Wind wispert in den Kronen der Obstbäume. Im Gewächshaus reifen dicke rote Tomaten, auf den Feldern Salate, Pastinaken, Bohnen und Erbsen, die sie ihren Kunden in Gemüsekisten auch nach Hause liefern. Ahlers, Biologe mit langer ergrauter Mähne, serviert frisch gebrühten Kaffee unter dem Schattendach eines Zeltpavillons mit Blick in ein Meer aus Blüten Gräsern und Beeten.

Die Macher der Möglichkeiten

Um das Gelände für sein soziales Gartenbauprojekt zu sichern, gründete Ahlers die gemeinnützige Bonnekamp-Stiftung. Ihr Kapital: das Grundstück. Seit es der Stiftung gehört kann es niemand mehr enteignen und für andere Zwecke nutzen. „Politiker und Verwaltung lassen ganze Stadtteile „absaufen“, weil sie „kaum Wählerstimmen“ bringen.

Zurück in der von mehrspurigen Straßen zerstückelten Norden der Innenstadt mit seinen Handyshops, Dönerläden und Billig-Geschäften wirken Kirche, Unperfekthaus, Mehrgenerationenhaus oder die Galerie Alte Mitte des Allround-Künstlers Lex Spielmann auf mich wie Raumschiffe aus einer anderen Welt.

Vermuten würde ich solche Inseln der Kreativität eher jenseits der Ruhrgebiets-Autobahn A 40, die die Stadt in den armen Norden und den reicheren, grünen Süden teilt.

Modistin in ihrem Geschäft in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Dort habe ich mich mit einem jungen Unternehmer zu einer Kanufahrt auf der Ruhr verabredet. Auf dem Weg dorthin geht es bergab durch Rüttenscheid. Ein winzig schmaler Radweg, den kaum jemand erkennt oder gar ernst nimmt, führt durch die Hauptstraße des Szeneviertels nach Süden. Hier eröffnen junge Kreative in Bauten der vorletzten Jahrhundertwende individuelle Feinschmecker-, Kunst- Designläden: Fotostudios, schicke Cafés, eine Kaffeerösterei und einen Barbiersalon. Etwas abseits hat Modistenmeisterin Ulrike Strelow ihre Hutmanufaktur eingerichtet. In ihrem mit Naturholzboden ausgelegten hellen Geschäft verkauft die Kunsthandwerkerin festliche Damenhüte und topmoderne Hipster-Kopfbedeckungen. Viele Stücke fertigt sie zusammen mit einer Auszubildenden in der Werkstatt hinter dem Laden. Die Kunden kommen „bis aus Köln und Düsseldorf“, weil sie „zum Beispiel das passende Outfit für eine Reise an die Pferderennbahn Ascot in England suchen“. Strehlow, eine jugendliche, fröhliche Frau um die 40 mit einem strahlenden Lächeln lebt gerne in Rüttenscheid. „Hier wohnen viele Familien mit Kindern.“ Alles könne sie zu Fuß erreichen. Ihre Tochter saust mit dem Tretroller zur Schule. Sie mag die kreative Atmosphäre im Viertel, die kleinen Läden im überschaubaren Kiez. In den Essener Norden fährt sie nie. „Du würdest doch nie nach Katernberg ziehen, oder?“, fragt sie ein Freund, der gerade auf dem Weg zu seinem Möbeldesignladen mit dem Fahrrad vorbeikommt. „Nein“, antwortet die Hutmacherin ohne zu zögern. „Warum auch?“

Isenbergplatz mit alternativen Kneipen in Essen, Kultkneipe Gold, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Tatsächlich scheint mir der Essener Süden heller, sorgloser, fröhlicher, rheinischer als die Arbeiterquartiere im Norden. Am Isenbergplatz scharen sich stylische Kneipen um einen von uralten Bäumen beschatteten Spielplatz, auf dem die Kinder toben, während die Mütter im „Gold“ oder beim „Holländer“ nebenan ihren Latte Macchiato trinken.

Ruderboot auf der Ruhr in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Mei Ruhr will i ham

Keine fünf Kilometer sind es von hier an die inzwischen wieder grüne Ruhr, wo André Zölzer Kanu- und Kajaktouren führt. Er bietet mir den vorderen Platz in einem Zweier-Kanu an. Beim Einsteigen gehe ich fast über Bord, gewöhne mich aber schnell an das wackelige Gefährt. „Gleichmäßig und ruhig“ soll ich das Paddel mit nicht zu viel Kraft längsseits durchs Wasser ziehen. Je weiter oben man des fasst, desto besser ist der Hebel. Stimmt.

Nach ein par Minuten gleiten wir durch das stille dunkelgrüne Wasser.  In Sichtweite der Autobahn und eines stillgelegten Förderturms blühen Teichrosen. Schwarze Kormorane schnappen sich Fische aus dem Fluss, auf dem Gänse ihre Runden drehen. „Seefrösche, Schildkröten, Erdkröten, Flusskrebse, Nutrias“, zählt Zölzer die Tiere auf, die sich angesiedelt haben, seit die Ruhr wieder einigermaßen sauber ist.

Ruhr in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

„Im Wasser leben Hechte Welse und auch wieder viele Döbel.“ Die “Forelle der Armen“ habe es hier früher in rauen Mengen gegeben. Wegen der Wasserverschmutzung waren sie verschwunden.

Einzig eingeschleppte Arten wie der Bärenklau, Springkraut, Kanada- und Nilgänse, trüben die Idylle. Das nördliche Ufer steht inzwischen unter Naturschutz. Selbst in unserem Kanu müssen wir uns  von den brütenden Vögeln fernhalten. Seine Touren erlebt der 43jährige als Urlaub vor der Haustür. Auch wenn viele Essener von der „Grünen Hauptstadt Europas 2017“ kaum etwas mitbekommen und manche beklagen, dass die Stadt das Geld vor allem für große Spektakel ausgebe: Zumindest hier, wo die Ruhr durch Wiesen und Wäldern plätschert und man im Fluss wieder baden kann, hat sich Essen den Titel verdient.

Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde von Essen Marketing unterstützt. vielen Dank

 

Strandbad Seaside Beach Baldeney am Baldeneysee in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Essen Info:

Bis weit ins 20. Jahrhundert war Essen (heute 576.000 Einwohner) mit 291 Zechen die größte Bergbaustadt Europas. Noch 1953 gab es im Ruhrgebiet rund eine halbe Million Bergleute. Seit 1986 die letzte Grube in Essen schloss hat sich in der nach eigenen Angaben „drittgrünsten Stadt Deutschlands“ viel verändert. Statt im Bergbau verdienen die Menschen ihr Geld heute vor allem mit Handel und Dienstleistungen. Einige der größten deutschen Unternehmen wie E.on, RWE, ThyssenKrupp, Aldi Nord, haben ihren Hauptsitz in Essen. Den Wandel krönt die zusammen mit Dortmund größte Stadt des Ruhrgebiets nun mit dem Titel „Grüne Hauptstadt Europas 2017“. Auf 45 % der Stadtfläche sind Felder, Wiesen, Wälder und Parks – In Essen stehen rund drei Millionen Bäume. 70 landwirtschaftliche Betriebe beackern 3000 Hektar Fläche.

 

Schurenbachhalde der Zeche Zollverein im Essener Stadtteil Altenessen mit der Skulptur “Bramme für das Ruhrgebiet” von Richard Serra im Abendlicht, , 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Tourist-Information: Essen Tourismus, Am Hauptbahnhof 2, Tel. 0201 88 72333

Rabatte für Stadtrundfahrten, zahlreiche Attraktionen, Theater, andere Veranstaltungen und die öffentlichen Verkehrsmittel bietet die Essen Welcome Card (zu kaufen in der Tourist Info)

Grüne Hauptstadt Europas 2017 mit allen Terminen und Projekten: www.essengreen.capital und mit weiteren Hintergrundinfos und Veranstaltungskalender

Fotografen der IG-RuhrPOTTFotografie dokumentieren die Grüne Hauptstadt Europas 2017

Stadtrundfahrt: Vor der Tourist-Information gegenüber dem Hauptbahnhof starten die roten Doppeldecker- Cabriobusse zu zweistündigen Stadtrundfahrten. Unterwegs gibt es über Kopfhörer Erklärungen vom Band in mehreren Sprachen und launige Kommentare der Busfahrer. Perfekt für einen ersten Überblick.

Innenstadt:

Rund um den Bahnhof ist Essen hässlich: Zweckbauten aus den 60er und 70er Jahren, laute, breite Straßen und eine große Fußgängerzone mit den Filialen großer Handelsketten. Inzwischen entdecken immer mehr Künstler und Studenten das nördliche Zentrum (Nordviertel) als bezahlbares, zentral gelegenes Wohnquartier. Viele eröffnen kleine Läden, Galerien (zum Beispiel die Galerie Alte Mitte, Viehhofer Pl. 20,)

und Kneipen wie Felis Theke, Mechtildisstr. 1

Textil- und Modedesign-Atelier im Künstlerhaus und Kreativzentrum Unperfekthaus in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Nicht weit von hier findet sich das Unperfekthaus, ein Kreativzentrum, in dem Maler, Musiker und alle anderen, die „etwas Interessantes, Kreatives und Legales“ mache, kostenlos Raum für ihre Ideen finden.

In der nördlichen Innenstadt hat der Erfinder des Unperfekthauses das Mehrgenerationenhaus GeKu-Haus  mit Einzel- und WG-Wohnungen sowie angeschlossenem Coworking-Space eröffnet. Die schönsten Räume: Der Gemeinschaftsraum mit Dachterrasse, die Sauna

Second Hand Markt im Erdgesschoss des Mehrgenerationenhauses in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Im Erdgeschoss gibt es neben einem Gebrauchtwarenladen  (Wer mag mietet hier ein Regal und verkauft seine alten Sachen) das Café Konsumreform mit sehr leckerem Kuchen

Kreuzeskirche: Werktags Konzerthalle, Kultort und Partyzone, sonntags Kirche

Nord-Süd:

Immer noch teilt eine unsichtbare Grenze (etwa entlang der Haupt-Bahnlinie) die Stadt in den ärmeren Norden und den reicheren Süden: Arbeiterquartiere, viele Migranten aus der Türkei und arabischen Ländern, ehemalige Bergarbeitersiedlungen hier, viele Parks, Wälder, Villen und schicke, bürgerliche Wohnquartiere wie Rüttenscheid mit seinen Designläden, alternativen Cafés und Restaurants dort. Viele aus dem Süden waren noch nie im Norden und umgekehrt.

Weltkulturerbe:

Die 1986 aufgegebene Zeche Zollverein, einst Deutschlands größtes Bergwerk, ist als Weltkulturerbe (2001) zum Wahrzeichen des Strukturwandels im Ruhrgebiet aufgestiegen. Die Stadt wollte das 100 Hektar große Gelände nach der Schließung des Bergwerks zur Mülldeponie machen. Heute ist sie stolz auf eines der größten Denkmäler der Industriekultur in Europa. Neben einer Event-Location mit Konferenzzentrum  finden sich auf dem ehemaligen Zechengelände das Red Dot-Design-Museum mit der weltweit größten Ausstellung zeitgenössischen Designs, Künstlerateliers, 40 junge Kreativ-Unternehmen das Performing Arts Choreographische Zentrum NRW (PACT) und einiges mehr.  Das Ruhr-Museum zeigt neben zahlreichen Sonderausstellungen die Geschichte der Industrieregion Ruhrgebiet. Auf dem Denkmalpfad Zollverein finden Führungen zur Geschichte des Bergwerks statt. Das Außengelände hat sich die Natur weitgehend zurück erobert. Hier gedeihen in einem 32 Hektar großen Wald  mehr als 540 verschiedene Pflanzenarten.

Dom: Der 1150 Jahre alte Essener Dom zählt zu den ältesten Kirchen Deutschlands. Zum Domschatz www.domschatz-essen.de gehört eine vergoldete Marienfigur aus dem frühen Mittelalter,

Museen:

 

Kulturzentrum Alte Synagoge in Essen, 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Alte Synagoge: Die 1913 erbaute Synagoge dient heute als Haus der jüdischen Kultur, Museum und Begegnungsstätte, Edmund-Körner-Platz 1

Museum Folkwang:

Das international bekannte Museum hat sich auf die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts spezialisiert. Es besitzt eine bedeutende Sammlung französische rund deutscher Malerei und Skulpur, zahlreiche Werke berühmter Fauvisten und Expressionisten, Arbeiten von Auguste Rodin, Gaugin, Ernst-Ludwig Kirchner, Gerhard Richter und ungezählter weiterer Künstler. Weitere Sammlungen widmen sich der Fotografie (60.000 Werke) und der Grafik (12.000 Blatt).

Das Deutsche Plakat-Museum hat mehr als 340.000 Plakate aus Politik, Wirtschaft und Kultur von 1880 bis heute gesammelt.

Museum Folkwang, Museumspl. 1 (Navi: Bismarckstr. 60)

 

Denkmalpfad: Essener Innenstadt Denkmalpfad Essener Innenstadt, Ernst-Schmidt-Platz 1,

draußen:

Vor allem der hügelige Süden Essens ist grün. Doch auch im Norden gedeihen Parks und Wälder – oft auf ehemaligen Abraumhalden der Bergwerke wie die Schurenbachhalde, von deren Gipfel man einen weiten Blick über Essen und das Ruhrgebiet genießen kann. Zahlreiche ehemalige Werkbahntrassen hat die Stadt zu Radwegen umgebaut. In Zukunft soll der Radschnellweg RS1 über 100 Kilometer fast kreuzungsfrei und über weite Strecken beleuchtet Duisburg mit Hamm verbinden. Das erste Teilstück zwischen der Uni in Essen und dem Hauptbahnhof in Mülheim (12 km) ist fertig. Insgesamt zählt die Stadt 376 Kilometer Radwege.

Die App „Essen Erfahren“ (kostenlos für apple und android) bietet mehrere Radtouren durch Essen mit integriertem Navi. Eine der Routen folgt dem einst zum  Abwasserkanal degradierten Flüsschen Berne, das wie fast 30 andere Bachläufe renaturiert wird. Wegen der zahlreichen Bergbau-Stollen und Schächte konnte man über Jahrzehnte im Ruhrgebiet keine Abwasserrohre verlegen. So missbrauchte man Bäche und Flüsse als stinkende oberirdische Abwasserkanäle. Der größte war der Fluss Emscher, der nun für rund 5,4 Milliarden Euro über 30 Jahre renaturiert wird. Die Ausstellung in der „Emscher-Box“ auf dem Kennedyplatz in der Innenstadt dokumentiert das Projekt.

Der Grugapark gilt als größter Stadtpark Deutschlands. Angelegt wurde er 1927-29 zur ersten deutschen Gartenschau Gruga (Große Ruhrländische Gartenbau-Ausstellung). Wer nicht zu Fuß gehen mag, kann sich mit der Grugaparkbahn durch die blühende Landschaft fahren lassen.

 

Marktplatz und Gasthaus der 1906-38 erbaute erste deutsche Gartenstadt Margarethenhöhe in Essen , 21.6.2017, Foto: Robert B. Fishman

Margarethenhöhe:

Die Siedlung gilt als die erste deutsche Gartenstadt. Erbaut wurden die 3000 Wohnungen und Einfamilienhäuser  von 1906 bis 1938 nach Plänen des Architekten Georg Metzendorff. Alle Häuser haben eigene Gärten. Die meisten sind mit Wein bewachsen. So leuchten die Fassaden im Herbst rot und goldgelb um die Wette.

Stadt der Kleingärten:

Rund 9.000 Mitglieder zählen die 110 Essener Kleingartenvereine. Außerdem gibt es inzwischen einen Schulgarten für die umliegenden Kindergärten und zehn Gemeinschaftsgärten, die Anwohner zusammen bewirtschaften.

 

blühende Blumen im Natur-Garten und Gemüsebau der Bonnekamp-Stiftung in Essen-Katernberg, 21.6.2017, Foto Robert B. Fishman

Bonnekamp-Stiftung: Auf einem Hügel im ehemaligen Bergarbeiter-Viertel Katernberg haben einige Enthusiasten um den Biologen Hubertus Ahlers ein 28.000 Quadratmeter großes Grundstück in ein Naturparadies verwandelt. Dort bauen sie in einer sozialen Landwirtschaft Bio-Gemüse und -Obst an, züchten Bienen und ernten essbare Blüten, Bonnekampstr.,

Baden in der Ruhr:

Auf acht Kilometer Länge staut sich die Ruhr seit 1933 am Baldeneyer Wehr. Das Wasserkraftwerk liefert Strom für rund 6.000 Haushalte. Auf dem Stausee gehen die Ruhrgebietler segeln, rudern und paddeln.

Am Nordufer verwandelten findige Investoren das ehemalige „Licht und Luftbad“ in den 65.000 Quadratmeter großen Seaside Beach Club mit Sandstrand,Palmen, Liegewiesen, Beachvolleyballfeldern, einer Surfschule und Cocktailbar. Im Mai 2017 eröffneten sie die erste Badestelle an der Ruhr, nachdem das Baden im Fluss mehr als 30 Jahre lang verboten war. Das Wasser war zu schmutzig.

Rundfahrten auf der Ruhr und dem Baldeney-See: Weiße Flotte, Hardenbergufer 379, www.flotte-essen.de/. Eines der Schiffe,  die MS Innogy, fährt inzwischen mit einer Methanol-Brennstoffzelle.

Geführte Kanu- und Kajaktouren auf der Ruhr, Team-Events auf dem Wasser, Klassen- und Drachenbootfahrten sowie Standup-Paddeling und Rafting bietet Kanu-Tour-Ruhr, Kampmannbrücke 35.

Kino:

Deutschlands größter Filmpalast nennt sich das 1928 erbaute und nach dem Krieg im Stil der 50er Jahre restaurierte Kino Lichtburg. Eine Bürgerinitiative rettete das historische Lichtspielhaus in den 90er Jahren vor dem Abriss. Inzwischen steht es unter Denkmalschutz, Kettwiger Str. 36

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Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

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